Die künstlerische Stadtform, Camillo Sitte
Die Stadt braucht eine Struktur, einen gestalterischen Rahmen und die Möglichkeit zur Entfaltung. Camillo Sitte verficht die These, die Stadt brauche auch eine Form und zwar nicht irgendeine.
(…vorher) Die schöne Stadt ist nach Sitte die gewachsene Stadt. Er schwärmt vom formalen Reichtum der Plätze, welche sich über die Jahrhunderte gebildet haben. Seiner Ansicht nach sind die Winkel und Ecken, aber vor allem die niemals schnurgeraden Linien ein Indiz dafür, dass die Städte im Mittelalter nicht am Reissbrett geplant, sondern auf der Strasse eingemessen wurden. Dies führte zu einer auf die menschliche Perspektive bezogene Form. Nicht die genauen Geometrien sollen hier entscheidend gewesen sein, sondern die Wirkung für den Betrachter: Beispielsweise behält man einen leicht schiefwinkligen Platz, auf Grund der optischen Verzerrung, dennoch als rechteckig in Erinnerung. Darüber hinaus aber erzeugt eine solche unreine Form eine Lebendigkeit und Charakteristik, welche eine reine Geometrie nicht leisten kann.
Diese Art der unreinen, dafür aber reichhaltigen Stadtraumgestaltung ist Sittes Anliegen. Er sucht nach abwechslungsreichen Raumabfolgen, spannenden Gewichtungen und Mehrfachlesbarkeiten. Diese Qualitäten möchte er in der modernen Stadt eingebunden wissen. Mit dem einfachen Kopieren ist es aber nicht getan, denn die moderne Stadt muss ganz anderes leisten, als die alten Stadtkerne. Er schreibt dazu:
„Sowohl das moderne Leben als auch die moderne Technik des Bauens lassen eine getreue Nachahmung alter Stadtanlagen nicht mehr zu […]. Die herrlichen Musterleistungen der alten Meister müssen bei uns in anderer Weise lebendig bleiben als durch gedankenloses Kopieren; nur wenn wir prüfen, worin das Wesentliche dieser Leistungen besteht und wenn es uns gelingt, das bedeutungsvoll auch auf moderne Verhältnisse anzuwenden, kann es gelingen, dem scheinbar unfruchtbar gewordenen Boden eine neue blühende Saat abzugewinnen.“ (1)
Sitte leitet im Sinne dieser Haltung Massnahmen für die räumliche Verbesserung für das Wien zu Beginn des 20 Jahrhunderts ab. Seine Vorschläge betreffen dabei im Wesentlichen die Veränderung von Platzproportionen, die Fassung von Plätzen mit weiteren Gebäuden, und die Unterteilung von Plätzen.
Die Stadt als räumlich, gestalterisches Werk zu verstehen, ist eine durchaus interessante Haltung. Die Förderung von spannenden Aussenräumen – und das muss sich nicht nur auf die Plätze beschränken – kann die Qualität der Stadt steigern. Diese Idee alleine wird noch keinen Widerstand hervorrufen, deren Umsetzung allerdings schon. Denn wer bestimmt, wie die Stadt aussehen soll? Wer setzt diesen Entwurf durch? Wer sorgt für eine durchgängige Gestaltung über eine grosse Fläche? Wer sichert die Kontinuität über einen langen Zeitraum? Und letztlich, wie geht man mit veränderten Anforderungen um?
All diese Entscheide müssen gefällt sein, bevor der Gestalter ans Werk geht. Ansonsten wird er für die Schublade arbeiten, oder seine Projekte werden ein Flickwerk bleiben. Eine gute Form kann sich kaum auf Grund ihrer selbst durchsetzen. Es benötigt dazu auch den politischen Willen und eine Umsetzungsstrategie. (Weiter bei…)
(1) Camillo Sitte, Der Städtebau, Nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Vieweg Verlag, 1909, 4. Auflage, Seite 123 bis 124