Die Sichtbarkeit der Substanz
Für Baudenkmale fordert Bernhard Furrer die Erhaltung der Substanz. Was er im Vorbeigehen auch fordert, ist die Sichtbarkeit des Denkmals (1). Die Sichtbarkeit ist aber das Gegenteil des Palimpsests.
(…vorher) Für Furrer ist die materielle Substanz nur die halbe Miete. Damit die Bauten von der Zeit, für die sie stehen, Zeugnis ablegen können, müssten sie auch in Ihrer Erscheinung unberührt bleiben. Da sich über ein unsichtbares Denkmal nicht nachdenken liesse, plädiert Furrer für die wichtigsten Bauten einen Erhalt ohne Einbussen. Das Weiterbauen am Verwaltungsgebäude in Givisiez kommt für ihn der Vernichtung des Denkmals gleich.
Diese Sichtweise ist so verständlich wie radikal. Verständlich ist sie, wenn es darum geht der Bevölkerung im Alltag ihre Geschichte offen zu legen. Wer auch immer sich fragt, was früher war, der kann sich ohne ein Buch in die Hand zu nehmen, die alten Bauten anschauen und sich ein eigenes Bild machen. Radikal ist die Sichtweise, weil sie keine Veränderung zulässt, obschon kaum jemand bestreiten möchte, dass das einzige was Bestand hat der Wandel ist. Die Denkmalpflege möchte verhindern, was sie nur verzögern kann. Material rostet, modert, wird spröde, löst sich auf. Die Denkmalpflege kämpft letztlich gegen das physikalische Gesetzt des Zerfalls und somit auf verlorenem Posten. Zumindest dem Elan, dem Zahn der Zeit dennoch ein Schnippchen schlagen zu wollen, ist bewundernswert. Dieser Elan führt dazu, dass wir in der Schweiz mehrere hundert Jahre zurück blicken können.
Die Nutzung der Gebäude tritt jedoch bei einer solch radikalen Bewahrungsstrategie in den Hintergrund. Denn wenn nichts Neues hinzugefügt werden kann, verliert das Haus den Anschluss an den heutigen Stand der Technik und damit an dessen Annehmlichkeiten. Wer, ausser ein paar Abenteuerlustigen, wollte heute schon freiwillig auf einem Holzherd kochen, wo er doch ganz ohne Holzhacken, Holzschleppen, Anfeuern, Rauchgestank und fehlender Hitzeregulation mit seinem Elektroherd hantieren könnte.
Das Haus wird mit einer sichtbaren, unveränderten Substanz zum Museum, fernab von jeglicher Lebensrealität. Die Abminderung oder gar der Verlust des Zweckes ist eine direkte Folge der rigorosen Bewahrung. Dem Haus eine neue Bestimmung zu geben steht damit erst recht nicht zur Debatte. Genau dies ist aber einer der zentralen Wesenszüge des Palimpsests. Als architektonisches Verfahren ist es an der Substanz insofern interessiert, wie sie dem neuen Zweck dient. Palimpsestverfahren kommen nur dann zu Stande, wenn ein Mindestmass an Kompromissbereitschaft gegeben ist. Besonders auf die Lesbarkeit der Substanz sollte verzichtet werden können. (Weiter bei…)
(1) Werk, Bau und Wohnen, 2018-03