Palimpsest,  Löschen

Palimpsest, Löschen

Die ersten drei Lesarten des Palimpsests haben eine wichtige Gemeinsamkeit. Als eine Art Grundvoraussetzung lohnt es sich die Löschung etwas genauer auf die Finger zu schauen.

(…vorher) Die Besonderheit des Löschvorganges ist schon am Beispiel des primären Palimpsestes abzulesen. Das Radieren ist kein Eingriff, der ein für alle Mal reinen Tisch macht. Es unterscheidet sich ganz wesentlich von einem „tabula rasa“, das eine klare Ausgangslage für etwas völlig neues schafft. Das Löschen beim Palimpsest ist nicht sehr konsequent. Es bleiben stets Reste des Alten vorhanden. Das Alte wird also nicht per se vernichtet sondern soweit aufgelöst, bis das es das Neue nicht mehr stört.

Ebenso entscheidend ist das ständige Wiederkehren dieser Handlung. Eben gerade so, wie das Geschriebene seine Funktion verloren hat – in dem es gelesen wurde; in dem es an Aktualität verloren hat; in dem etwas Wichtigeres hat aufgeschrieben werden müssen – kann es durch etwas neues ersetzt werden.

Wir begegnen hier einer völlig anderen Sichtweise auf den Inhalt eines Textes. Denn nicht dieser wird erhalten, sondern die Schreibunterlage auf dem er stattfindet. Das was bleibt, ist also das Papier, das Leder. Deren Wert derart hoch zu halten mutet aus heutiger Sicht, wo ein Blatt Papier ein paar Rappen kostet, etwas komische an. Doch dieses Befremden macht uns genau auf den Kern des Lösch-Verhaltens aufmerksam. Der Sinngehalt wird nicht als derart erhaltenswert erachtet. Der Palimpsest-Begriff lässt uns Sinn als etwas zeitlich Begrenztes begreifen. Er ist etwas, dass irgendwann nicht mehr, oder nicht mehr gleich verstanden wird wie heute.

Aus diesem Blickwinkel beschreibt das Palimpsest einen spezifischen Umgang mit der Substanz. Die Frage lautet, ob dies von den Schriftstücken auch auf die Architektur übertragen werden kann.

Naheliegend ist es, den gestalterischen Ausdruck, die Konstruktionsweise und die Nutzungsweise als Sinngehalt der Architektur zu beschreiben. Die Rolle der Schreibunterlage nimmt dann die materielle Substanz ohne Berücksichtigung der zuvor genannten Attribute ein. Bricht man an den richtigen stellen etwas weg und ergänzt sie anderswo, zerfällt die Lesbarkeit des Bestandes und es entsteht ein neuer Sinngehalt. (Weiter bei…)