Palimpsest, Einige Grundlagen

Palimpsest, Einige Grundlagen

Die Bedeutung des Begriffes Palimpsest ist etwas komplexer, als dies das Lexikon glauben macht. Zwar geht das Wort tatsächlich auf das wieder verwendete, mittelalterliche Pergament zurück. In den Jahrhunderten bis heute haben sich jedoch weitere Sinngehalte dazugesellt.

(…vorher) Grundsätzlich lassen sich für den Begriff Palimpsest mindestens vier verschiedene Bedeutungsfamilien feststellen: Die Primäre, die Historische, die Sekundär-Literarische und die Poststrukturalistische. Folgend sollen diese Begriffe kurz beschrieben werden:

Die erste Bedeutung des Wortes Palimpsest ist eng mit seinem griechischen Ursprung verbunden. palimpsestos bedeutet so viel wie „wieder abschaben“. So meint Palimpsest hier eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite, welche beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde. Palimpsest bezeichnet hier also in erster Linie eine wieder verwendete Schreibunterlage und ist damit grundsätzlich mit dem Wort Recycling verwandt. Dieser Prozess ist in zwei Vorgänge aufgeteilt, wovon der erste die Handlung der Tilgung und der zweite die Wiederbeschriftung, eine erneute Sinngebung darstellt. Diese Wortdeutung bezeichne ich im Folgenden als die „Primäre“.

Die zweite Bedeutung bezieht sich nicht auf den Vorgang des Schabens, sondern auf den, aus dieser Handlung hervorgegangenen Nebeneffekt der Konservierung. Auf Grund der inkonsequent durchgeführten Löschung, die der unzulänglichen Radiermethode, oder der Schonung der Schreibunterlage angelastet werden kann, bleiben Reste der alten Tinte erhalten. Diese „verborgenen“ Textreste lassen sich mittels der Fluoreszenzfotographie für die Geschichts- und Literaturforschung nutzbar machen. Es geht also um das Aufdecken verloren geglaubten Wissens. Dies jedoch ist auf Grund seiner Quelle stets lückenhaft, bleibt also in den meisten Fällen ein Torso. In Bezug auf seine Verwendung werde ich diese Wortdeutung als die „Historische“ bezeichnen.

Eine dritte Bedeutung, die ich mit „sekundär-literarisch“ umschreibe, ist vorwiegend im Sinne Gérard Genettes (1) zu verstehen. So bezieht sich „sekundär“ einerseits auf den Untersuchungsgegenstand seines Buches, („Palimpseste – Die Literatur auf zweiter Stufe“) den unterschiedlichen Hypertextformen (2) in der Literatur. Andererseits steht „sekundär“ aber auch für den Bedeutungsabstand, den der Begriff in seiner literarischen Verwendung, zur primären und historischen Bedeutung erfahren hat. So geht es weder um das Tilgende, noch um das Konservierende des Wortes, sondern um die Beziehung zwischen einem ursprünglichen, und einem davon abgeleiteten Text, die durch das Hervorscheinen der sich überlagernden Inhalte erst ermöglicht wird. Und zwar ohne zu berücksichtigen, dass die primäre Begriffsdeutung einen Zusammenhang zwischen den sich überlagernden Texten praktisch ausschliesst.

Das Interesse des Poststrukturalismus am Palimpsest dreht sich um die Erzeugung von Sinn. Jacques Derrida zum Beispiel erprobte in dieser Absicht die Kombination von unabhängigen Schriftstücken. Julia Kristeva prägte den Begriff der Intertextualität, der ganz allgemein den Bezug von Texten auf andere Texte bezeichnet, unter den auch palimpsesthafte Verfahren fallen.

Diese Aufstellung ist bestimmt nicht vollständig. So ist zum Beispiel denkbar, dass in der bildenden Kunst oder der Musik weitere Lesarten des Begriffs existieren. Je nach Disziplin, in der wir uns befinden, lässt sich wohl eine eigene Definition des Wortes finden. Was aber kann für die Architektur gelten? (Weiter bei…)

(1) Genette Gérarde, Palimpseste: Die Literatur auf zweiter Stufe, Surkamp 1982

(2) Hypertex: Über-, Nachfolgetext / Hypotext: Grundlage-, Ursprungstext