Teil 4, Die Realität besteht aus Mischformen
Die Schwierigkeit die Begriffe Transparenz und Transluzenz sinnvoll einordnen zu können, liegt an der Differenz zwischen der theoretischen Eigenschaft und dem realen Material, von dem sie abgeleitet ist. Wer Architekturtheorie auf einem optischen Phänomen aufbauen will, muss sich zwingend auch mit dieser Unterscheidung befassen.
(…vorher) Die reine Durchsicht kommt in unserer Lebenswelt praktisch nicht vor. Allenfalls zeigen sich die Lichtverhältnisse kurzeitig gnädig und lassen bei einer Glasfassade jegliche Spiegelung und Trübung verschwinden. Der Scheinwerfer eines vorbei fahrenden Autos oder eine vorbeiziehende Wolke reichen aus und die Scheibe zeigt sich wieder als jenes annähernd, aber eben nie ganz, durchsichtige Bauteil. Die Glasscheibe ist auch mit den neuesten Herstellungsmethoden immer noch spiegelnd und trotz Nanobeschichtung nie ganz frei von Verschmutzung. Unsere Wahrnehmung dieser Scheiben spielt uns aber gerade in zweierlei Hinsicht einen Streich:
Zum einen blenden wir die Nebeneigenschaften des Glases zu Gunsten der Durchsicht aus. Zum anderen nehmen wir die Begleiterscheinungen des Glases als integralen Bestandteil der theoretischen Durchsicht wahr.
Im ersten Fall simplifizieren wir die Eigenschaften eines Materials. Wir übergehen alles Nebensächliche und konzentrieren uns auf die Haupteigenschaft. Das ist nicht abwegig, wird aber dann kritisch, wenn wir vergessen, dass wir eine Vereinfachung vorgenommen haben und dem Glas die abstrakte Durchsicht auch in der Realität zuschreiben.
Im zweiten Fall verbinden wir Phänomene zu einem Ganzen, die in der Realität sehr oft zusammen auftreten, aber abstrakt betrachtet nichts miteinander zu tun haben. Der Glasrand oder der Glasrahmen ist hierfür ein gutes Beispiel. Wo immer Scheiben zum Einsatz kommen, lässt sich ein Rand finden. Das heisst aber nicht, dass der Rand ein Attribut der Durchsicht ist.
Damit wird klar, dass theoretische Begriffe nur sehr vorsichtig mit realen Phänomenen verglichen oder gar gleichgesetzt werden sollten. Das beugt Fehlschlüssen vor, wie jenem, dass verschmutzte oder bedruckte Glasscheiben als transparent zu bezeichnen sind. Tatsächlich ist es so, dass hier mindestens drei optische Zustände zusammenwirken. Die Verschmutzung und Bedruckung sind opak, die Glasanteile sind mehrheitlich durchsichtig und spiegeln schwach. Es ist daher eine starke Vereinfachung, wenn nur eine Eigenschaft herausgegriffen wird.
Mann könnte in diesem Fall von leicht getrübter, schwach spiegelnder Durchsicht sprechen. Diese Präzisierung schützt vor der Schwierigkeit zu entscheiden, ab welchem Trübungsgrad nicht mehr von Durchsicht gesprochen werden kann. Denn von Durchsicht kann immer dann gesprochen werden, wenn es solche Bestandteile im Material gibt, welche sie zulassen. (Weiter bei…)