Teil 2, Simultaneität und Gesamteindruck

Teil 2, Simultaneität und Gesamteindruck

Als Beispiel einer simultanen Darstellung werden oftmals Picassos Werke angefügt. In seinen Bildern verschmelzen verschiedene Ansichten der Figuren in einem Ganzen, sodass die Rückseite, Profil- und die Frontalansicht gleichermassen zur Darstellung gelangen. Nun stellt sich die Frage, wie wir diese Erscheinung wahrnehmen.

(…vorher) Ist es möglich zeitgleich alle Aspekte zu erfassen und sie dementsprechend als Hinterkopf oder Gesicht zu identifizieren? Können die verschiedenen Perspektiven simultan wahrgenommen werden? Ist es nicht vielmehr die aufeinander folgende Analyse der einzelnen Aspekte, welche die unterschiedlichen Ansichten als solche ersichtlich macht?

Um zwei oder mehrere Dinge erfassen zu können, müssen wir sie zuerst unterscheiden. Wir trennen sie voneinander – das eine ist nicht das andere. Wir schliessen also vom ersten Ding auf das zweite und machen sie damit voneinander abhängig. Der Unterscheidungsvorgang ruft eine Reihenfolge hervor und damit automatisch eine Chronologie. Eine simultane Wahrnehmung mehrerer Gegenstände ist daher nicht möglich.

Eine Situation kann uns zwar als simultan erscheinen. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass dieses Empfinden bereits durch unser Gedächtnis gestaltet ist, also im Nachhinein als gleichzeitig erkannt wird. Nun ist es nicht so, dass Geschehnisse nicht gleichzeitig von statten gehen können. Wir können sie nur nicht als solche wahrnehmen.

Bricht nun die ganze Idee der Vision in Motion zusammen oder wurde Moholy-Nagy einfach

nur das Opfer einer unglücklichen Begriffswahl? Kepes eröffnet uns einen Ausweg, indem er

über das Verhältnis zwischen Musik und bildender Kunst sprich. Er gibt uns eine Vorstellung

davon, was Moholy-Nagy mit Simultaneität gemeint haben könnte:

„Die einzelnen Töne sind Punkte, durch die die Linien gezogen sind; und der beabsichtigte und vom verständigen Zuhörer wahrgenommene Eindruck beruht nicht auf einzelnen Tönen, sondern auf zusammenhängenden Tonlinien, die Bewegungen, Kurven und Ecken beschreiben, die steigen, fallen oder schweben, analog den linearen Eindrücken eines Bildes oder einer Zeichnung.“ (1)

Kepes hat den Gesamteindruck eines Werkes und die Art und Weise wie dieser zu Stande kommt im Visier. Für ihn folgen die Augen beim Wahrnehmen eines Bildes linearen Bahnen. Der Betrachter flaniert visuell auf der Bildoberfläche hin und her und fügt das Werk im Gedächtnis Stück für Stück zusammen. Es werden aber nicht nur die einzelnen Dinge registriert, sondern auch ihr Verhältnis zueinander. Dies beschreibt auch Moholy-Nagy, wenn er von Integration und Umwandlung von Einzelteilen in ein stimmiges Ganzes spricht (2). (Weiter bei…)

(1) Kepes, S. 48 (aus: Percy Goetschius, Exercises in Elementary Counterpoint, New York, 1910)

(2)  Moholy-Nagy Lásló, Vision in Motion, Chicago: Paul Theobald and Company, 1956, S. 12