Teil 2, Formen der Durchdringung
Beide Autoren, Kepes und Moholy-Nagy, verwenden den Transparenzbegriff in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Es ist daher auch nicht ganz leicht, eine einheitliche Vorstellung darüber zu gewinnen, was das Wesen der Transparenz für sie ausmacht.
(…vorher) Kepes zum Beispiel baut seine Überlegungen auf der Interpretationseigenschaft der menschlichen Wahrnehmung auf. Diese versucht komplexe Gebilde stets in eine sinnhafte Ordnung zu stellen, indem sie Elemente dieses Komplexes zu erkennbaren Einheiten verbindet. Ein Beispiel sind die Figuren, welche man mit etwas Phantasie in Wolkenformationen zu sehen glaubt. Dieser Effekt findet auch in der bildenden Kunst seine Anwendung. So kann in der Bildkomposition die Zusammengehörigkeit von Flächen, je nach Lesart ihrer Beziehungen, unterschiedlich gelesen werden. Daraus leitet Kepes die Bedeutung der Flächenkonturen ab, welche mehr noch als die Farbe auf die Beziehung von Kompositionsteilen einwirkt. Ihre Bedeutung als Grenze ist offensichtlich. Kontinuierliche Linienzüge können auf Grund ihrer Gesamtbewegung aber auch zusammenbindend wirken.
„Eine Anzahl benachbarter Figuren auf der Bildebene ist automatisch durch die Bewegung ihrer zusammenhängenden Konturen verbunden.“ (1)
Diese doppeldeutige Wirkung der Kontur wird in der Umrisslinie noch um einen Aspekt erweitert. Als eigenständiges Element stellt sie die gemeinsame Grenze verschiedener Flächen dar und bezieht sich dabei sowohl auf das Innere als auch auf das Äussere. Der Betrachter hat diesen Widerspruch der Zugehörigkeit zu lösen, woraus eine intensive Teilnahme am Werk erfolgt (2). Wie sich am Beispiel des Liniendiagrammes zeigen lässt, ist jede Linie mehreren Formen zugehörig. Ein Umstand, der die Objekte in einer Art Überlagerung zeigt. Im Hin und Her der Zuordnung beginnen sich die Formen zu durchdringen. Damit kommen wir in die Nähe des Begriffs der Durchdringung, den Kepes als Aspekt der Transparenz herausstreicht:
„Die Figuren sind transparent, das heisst, es ist ihnen möglich, sich gegenseitig zu durchdringen, ohne sich optisch zu zerstören“ (3)
Neue Abbildungstechniken wie Photographie, Lichtbild-Projektion und Drucktechnik, hätten zur Neubewertung der Bildüberlagerung und zu ihrem Eingang in die bildende Kunst geführt (4). Mit ihr liessen sich Darstellungen von hoher Komplexität erzeugen, da mehrere Informationen auf derselben Bildstelle dargestellt werden könnten. Diese Bildeigenschaft wirkt sich nach Kepes in zweierlei Hinsicht auf das künstlerische Werk aus: Einerseits könnten nun die Bildinhalte zusammengedrängt und in einer hohen Kompaktheit zur Darstellung gebracht werden, andererseits verändere sich der Raumbezug in dem sich die herkömmliche Tiefenwirkung auflöse:
„Der Raum tritt nicht nur zurück, sondern fluktuiert beständig. Die Lage transparenter Figuren hat eine zweifache Bedeutung, da man jede Figur bald als die nähere, bald als die entferntere sieht.“ (5)
Kepes sieht die „perspektivische“ Fluktuation aber nicht nur auf die rein optisch funktionierende Bildoberfläche beschränkt. Er gesteht dem Phänomen eine viel weitreichendere Wirkung im Raum selbst zu. Rowe und Slutzky werden diesen Ansatz aufgreifen. Bei Kepes Ausführungen selbst jedoch wird nicht ersichtlich, in wie fern Transparenz wirklich im Stande ist, räumliche Distanz aufzuheben, oder mindestens in ihrer Dominanz zu schwächen. Seine Interpretation der modernen Architektur lässt zumindest nicht auf einen solchen Effekt schliessen. Obwohl er auch hier die Prinzipien der Transparenz am Werke sieht, beschränkt sich seine Lesart auf die Ablösung massiver Wände durch offene, durchsichtige Flächen. Mit den technischen Neuerungen der Glasfabrikation lässt sich die herkömmliche Tiefenwirkung aber noch nicht aus dem architektonischen Diskurs verbannen. Das Hin und Her von Nähe und Ferne wird durch das perspektivische Zurückweichen des Raumes verhindert. Die Fluchtlinien stellen die einzelnen durchsichtigen Ebenen in eine Ordnung der Distanz. Dennoch interpretiert er die „Glasarchitektur“ als parallele Bewegung zur Entwicklung in der bildenden Kunst, wo „undurchsichtige Oberflächen in ähnlicher Weise durch eine transparente Durchdringung der Ebene und offene Gerüste von Linien ersetzt worden sind.“ (6) (Weiter bei…)
(1) Kepes György, Sprache des Sehens, Mainz: Kupferberg, 1970, S. 48
(2) Kepes György, Sprache des Sehens, Mainz: Kupferberg, 1970, S. 84
(3) Kepes György, Sprache des Sehens, Mainz: Kupferberg, 1970, S. 63
(4) Kepes György, Sprache des Sehens, Mainz: Kupferberg, 1970, S. 63
(5) Kepes György, Sprache des Sehens, Mainz: Kupferberg, 1970, S. 63
(6) Kepes György, Sprache des Sehens, Mainz: Kupferberg, 1970, S. 97