Das vergessene Stadtkonzept
In den voran gegangenen Texten hat sich gezeigt, dass die mittelalterliche Altstadt ein Vielzahl an Qualitäten mit sich bringt: Gestalterische Reichhaltigkeit, Flair, Einprägsamkeit, Anpassungsfähigkeit. Warum wird dann heute nicht mehr so gebaut?
(…vorher) Die Altstadt war nicht immer ein Hort der Lebensqualität. Spätestens mit der Industrialisierung litt sie unter einer grossen Bewohnerdichte. Das Arbeitervolk war gezwungen sich mit ihren gesamten Familien in kleinste Zimmer zu drängen. Hygienischen Missstände waren die Folge. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich eine Gegenbewegung formierte. Zunächst entstand die Gartenstadtbewegung, welche das durchgrünte Wohnen in neu zu gründenden Städtenetzen proklamierte. Später war es die klassische Moderne, welche die dichte Altstadt durch Hochhäusern in einer weiten Parklandschaft ersetzen wollte.
Die Verhältnisse in der alten Stadt müssen also derart miserabel gewesen sein, dass man nur die Flucht oder den Abriss als Lösung sah. Wie sich zeigt, war das eine Überreaktion. Nach der Entrümpelung der Hinterhöfe und der Vergrösserung der Wohnflächen, gelten viele Altstädte wieder als äusserst lebenswerte Orte. Zudem hat sich die Rettung von der Altstadt zum Teil selbst ins Negative verkehrt: Die Hochhaussiedlungen der Banlieues boten der Arbeiterklasse, zum Zeitpunkt ihrer Erstellung, komfortablen Wohnraum. Die Entlassungswelle der Deindustrialisierung in den Siebzigern verwandelte die Siedlungen jedoch zu Orten des sozialen Abstiegs. In beiden Fällen liegen die Gründe für die soziale Misere nicht hauptsächlich in der Baustruktur, sondern mehr ihrer Verwendung. Wie auch immer sich die Banlieues entwickeln werden, die Altstädte haben sich von ihren Problemen erholt.
Trotz ihrer von allen Seiten attestierten Qualität ist die Altstadt aber dennoch kein Modell, das weiter verfolgt wird. Heute wird auf andere Grundlagen Bezug genommen. Bei der Umnutzung von Industriebrachen stehen folgerichtig die grossen Hallen Pate. Dort wo aufs freie Feld gebaut wird, kommen meist freistehende Kisten zum Einsatz, und die wenigen neuen Blockränder haben nicht die kleinteilige Qualität der mittelalterlichen Städte (Siehe Richti Areal). Es scheint, als käme es niemandem in den Sinn sich auf die mittelalterliche Stadtform zurück zu besinnen. Das mag am Gefühl der Unwiederbringlichkeit liegen, das uns durch die Denkmalpflege eingeimpft wurde. Es mag an unserem modernen Erbe liegen, das mit der Debatte um die Ehrlichkeit jeglichen Rückgriff als Rückschritt betrachtet. Es mag aber auch an den angestrebten Eigentumsverhältnissen liegen, welche dem Prinzip der Altstadt nicht mehr entsprechen. Bei alledem geht jedoch vergessen, dass hinter der historisch gewichtigen Oberfläche auch der Kernstadt eine Systematik innewohnt, die wie jedes andere städtebauliche Prinzip weiter verwendet werden kann. (Weiter bei…)