Der geprägte Ort
Mittelalterliche Stadtgründungen sind spannende Orte. Mit ihren Winkeln und Ecken erzeugen sie unverkennbare Räume.
(…vorher) In Zeiten des Städtetourismus und des Standortmarketings ist die Attraktivität einer Stadt zu einer wichtigen Grösse geworden. Dazu leisten die kulturellen Veranstaltungen, die Kaffeekultur, das Nachtleben und alle weiteren Unterhaltungsformen einen wesentlichen Beitrag. In der Erinnerung verschmelzen die Aktivitäten in der Stadt aber auch mit der gebauten Stadt. Sie ist die Kulisse, vor der das bunte Schauspiel menschlicher Unternehmungen stattfindet. Die Tourismuswerbung profitiert von dieser Verbindung. Bauwerke werden zu Symbolen für die Erlebnisse in einer Stadt: Der Eiffelturm ist nicht nur ein schöner Aussichtsturm, mit der Darstellung dieses Stahlgerüstes auf einem Reiseprospekt schwingen all die Erlebnisse mit, welche man an diesem Ort erlebt hat, oder noch erleben könnte. Diese Konstruktion ist der informative Kulminationspunkt aller Filme, Bücher und Reportagen, welche man über Paris schon gesehen und gelesen hat. Er ist der Stellvertreter für alle Emotionen, die man mit diesem Ort verbindet, für das Flair der Stadt.
Diese Verschmelzung zwischen der gebauten und erlebten Stadt ist aber kein rein touristisches Phänomen. Das Fremdenverkehrswesen bedient sich lediglich einer bereits vorhandenen Wahrnehmungsart. Das lässt sich anhand der Sichtweise auf den eigenen Wohnort nachweisen. Nicht jede Gemeinde hat einen Eiffelturm, aber dennoch gibt es überall Bauten, Plätze und Gassen, welche die Stimmung einer Stadt symbolisieren. Dabei ist es nicht notwendig, sich nur auf einen Gegenstand zu konzentrieren. In der persönlichen Erinnerung kann die Stadt durch verschiedene Stellen versinnbildlicht werden.
Mittelalterliche Städte weisen eine grosse Fülle an möglichen Stellen auf, die als Erinnerungsorte in Frage kommen. Dank der charakteristischen Form von Bauten und Aussenräumen bleibt so manche Ecke im Gedächtnis hängen. Natürlich ist es auch hier das Rathaus oder die Kirche, die einem zuerst in den Sinn kommen würden. Aber wenn man weiter denkt, kommt einem auch der unscheinbare Durchgang zwischen den Häusern, das Plätzchen vor dem Lieblingskaffee und das charmant verwinkelte Häuschen um die Ecke in den Sinn. Aus solchen Gegenständen, vermischt mit unseren Erlebnissen, setzt sich die persönliche Stadt zusammen. Die Bauwerke und die Tätigkeiten in ihnen verschmelzen zu einer Stimmung, zum Flair der Stadt.
Stimmung und Flair sind schwer greifbare Dinge und für jede Person mindestens leicht verschieden. Umso wichtiger ist es, das eine Stadt eine Vielzahl von charakteristischen Stellen aufweist, an denen sich die Erinnerung festsetzten kann. Der formale Reichtum der mittelalterlichen Altstädte bietet eine Vielzahl solcher Kristallisationspunkte. Die kleinteiligen Baustrukturen, die schiefwinkligen Gebäude, aussenräumlichen Perspektivenwechsel, all dies prägt sich uns ein und macht die Stadt zu einem unvergesslichen Ort. (Weiter bei…)