Das Malerische

Das Malerische

Wenn die Struktur das wichtigste Element der Stadt darstellt, welchen Stellenwert haben dann die ästhetischen Aspekte, welche für gewöhnlich als erste wahrgenommen werden?

(… vorher) Die mittelalterlichen Kernstädte gelten wegen ihrer malerischen Qualitäten als schön. Touristen strömen durch sie hindurch und bestaunen die Kirchen, Gassen und Plätze. Das Sichtbare einer Stadt zieht viele Menschen an. Damit besteht eine Differenz zwischen der Wahrnehmung der Stadt und ihrer Struktur, aus der sich die wahrnehmbare Oberfläche zu grossen Teilen ableitet. Dies kann so weit gehen, dass der ästhetischen Seite das städtebauliche Hauptgewicht zugesprochen, und die Siedlung nur von dieser Warte her beurteilt wird.

Vor diesem Hintergrund ist die neu erstellte Stadtbefestigung von Port Grimaud äusserst verständlich. Man möchte mit den offensichtlichen Elementen der mittelalterlichen Stadt die Geschichte einer mittelalterlichen Stadt erzählen. Die Funktion der Mauer ist demnach nicht der Schutz der Stadt, denn dazu gibt es weder einen Grund, noch könnte sie diese Aufgabe tatsächlich leisten. Vielmehr wurde sie einzig aus ästhetisch, atmosphärischen Gründen erstellt. Es wird der Anschein eines alten Ortes erweckt.

Das dies als Vorspiegelung falscher Tatsachen angesehen werden muss, ist kaum zu bestreiten. Es liesse sich aber die Frage stellen, ob die ästhetischen Aspekte eine derart hohe Wichtigkeit haben, dass sie als alleinige Begründung einer Form statthaft sind. Denn letztlich tragen alle altertümlich erscheinenden Teile der Siedlung dazu bei, dass sich die Menschen in ihr wohl fühlen. Die Stadt ist damit ein rein ästhetisches Produkt, das in allen Aspekten seiner Existenz auf dieser Ästhetik beruht: Die Investoren haben darauf spekuliert, dass sich die Wohnungen durch die Schönheit der Siedlung verkaufen lassen. Die Käufer haben sich mit diesem Argument anlocken lassen, und die Touristen streifen aus diesen Gründen durch die Gassen. Hier hat sich demnach bewahrheitet, was sich insgeheim jeder Architekt wünscht: dass sich durch das Erzeugen von Schönheit alles lösen lässt.

Doch wir ahnen es schon, der Schein trügt. Port Grimaud ist durch seine Vermarktungsstrategie etwas gar einseitig geraten. Die Siedlung ist im Grunde keine Stadt, denn sie beherbergt keine vollständige Gesellschaft. Sie dient der Erholung. Neben den Restaurants und den Souvenirläden gibt es kein Gewerbe. Das Wirtschaftsmodell mit der Schönheit funktioniert nur, weil das Geld für den Konsum anderswo erarbeitet worden ist.

Aber auch nach den Maximen der Schönheit hinterlässt die Siedlung einen fahlen Nachgeschmack. Denn sie umwirbt einen nicht nur mit der guten Proportion oder dem exquisiten Material. Sie erzählt auch eine Geschichte, die es so nie gegeben hat. Man fühlt sich hier nicht nur wegen der Form, sondern wegen der vorgespiegelten Tradition und der ursprünglichen Kultur wohl.

Es heisst, die Schönheit sei der Abglanz der Wahrheit. Im Falle von Port Grimaud sind diese Abhängigkeiten ins Gegenteil verkehrt. Die Siedlung bietet ihren Betrachtern den Anschein einer Realität, nicht mehr und nicht weniger. Funktionieren kann dies nur deshalb, weil sie eine sehr spezialisierte Wirtschaftsstrategie verfolgt. Ganzheitliche Orte können sich nicht nur auf das Schöne alleine verlassen. (Weiter bei…)