Grenzen des mittelalterlichen Stadtkonzeptes
Kann heute noch nach einem mittelalterlichen Stadtbauprinzip vorgegangen werden? Es herrschen andere verkehrstechnische Anforderungen und die Stadt ist keine abgeschlossene Einheit mehr. Es bedarf keiner Verteidigungsanlage und das Wachstum einer Stadt ist heute eine Notwendigkeit zur Steigerung des Steuersubstrates.
(… vorher) Über viele Jahrhunderte hat sich die mittelalterliche Altstadt gut gehalten. Sie konnte sich den Bedürfnissen der Zeit anpassen. Mit der Massenproduktion von Autos in der Nachkriegszeit wurde diese Flexibilität jedoch stark auf die Probe gestellt. Die Gassen wurden schnell zu eng und die Marktplätze wurden zu Parkplätzen. Schon Ende der 50-er Jahre entfaltete sich betreffend des Verkehrschaos in der Kernstadt ein gewisser Unmut in der Bevölkerung. Aber erst Ende der 70-er Jahre begann sich die Lösung zum auto-bedingten Qualitätsverlust durchzusetzen. Nach und nach wurden die Altstädte vom Verkehr befreit. In Winterthur dauerte der Prozess bis zur vollständigen Autofreiheit jedoch bis ins Jahr 1999 (1). Gut fünfzig Jahre nach dem Autoboom kann man sich die Altstadt nicht mehr anders vorstellen. Die Autos vermisst keiner. Zumal das Parkhaus außerhalb der Stadtmauern nicht weit entfernt liegt und die ÖV-Erschliessung im Allgemeinen sehr gut ist. Hinzu kommt, dass in vielen Städten Ladenstrassen entstanden sind, die nur Dank den Fussgängerzonen überhaupt so stark florieren. Diesem Wirtschaftsfaktor möchte niemand ernsthaft die Grundlagen nehmen. Die mittelalterliche Altstadt hat also einen Weg gefunden mit der neuartigen Mobilität umzugehen.
Auch neue Siedlungen können von diesem Beispiel lernen. Das heisst nicht, dass die Stadt als Ganzes ohne Verkehr funktionieren muss. Es zeigt aber, dass einzelne grosse Zellen in der Stadt verkehrsbefreit gestaltet werden können, ohne dass daraus Nachteile entstehen müssen.
Das Wort „Zelle“ beschreibt auch die Eigenschaft der Abgeschlossenheit nach aussen sehr gut. Nicht nur bezüglich des Wechsels der Fortbewegung besteht ein Bruch zur umliegenden Siedlungsfläche. Eine Grenze zieht die Altstadt auch formal, in dem sie entlang ihrer ehemaligen Verteidigungslinien sehr geschlossen wirkt. Mit der Schleifung der Schanzen im 19 Jahrhundert, hat die Stadt ihre festen Grenzen aufgegeben. Die alten Formen der Kernstädte sind aber geblieben. Besitzverhältnisse und die bestehende Baumasse waren zu grosse Hürden, um die alte Struktur umzugestalten. Der offenen Bebauungsweise ging man einfach im Umland nach und beließ den Kern wie er war. Heute besticht die Altstadt auch deshalb, weil sie als Gebiet klar erkennbar ist. Sie hat eine eindeutige Form und Grösse.
Beide Faktoren, die Fussgängererschliessung und die bauliche Aussenform, werden heute als Qualität verstanden und können auch bei neuen Siedlungen angewandt werden. Es wäre einen Diskurs wert, ob die Stadt nicht als eine Addition von grossen, abgeschlossenen Fussgängerzonen entwickelt werden sollte.
Nur auf Grund dieser beiden Faktoren entsteht jedoch noch keine Altstadt. Zum einen braucht es dazu Zeit, damit sich das Wort „alt“ rechtfertigt. Zum anderen bedarf es noch weiterer Zutaten um dem Prinzip der Altstadt nahe zu kommen. (Weiter bei…)
(1) Verena Rothenbühler, Bauen und Wohnen in der Industriestadt (1850-1945), in: Winterthurer Stadtgeschichte, Band 2, Von 1850 bis zur Gegenwart, Chonos Verlag, 2014, Seite 59