Aufgelöstes Denken
Die Auflösung des städtebaulichen Zusammenhaltes durch die Abwendung der Häuser von einer übergeordneten Struktur, hat sich über die letzten hundert Jahre kontinuierlich entwickelt. Das schwächer werden der Stadtform und die auf sich bezogene Architektur, haben sich gegenseitig befördert.
(… vorher) Wenn wir die Neubausiedlungen der letzten Jahre betrachten, offenbart sich eine Richtungslosigkeit in der städtebaulichen Konzeption. Es hat den Anschein, als gäbe es keine übergeordneten baulichen Prinzipien, welche den Ausdruck der Stadtquartiere formen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie die Form der Bauten zustande kommen. Heutzutage wird die Gestaltung grosser Projekte überwiegend mittels Architekturwettbewerben bestimmt. Die Entscheidung über das Aussehen der Stadt wird damit in, voneinander unabhängigen, Entscheiden gefällt. Die Textreihe „Typologie der Grösse“ geht auf diese unterschiedlichen benachbarten Bebauungsformen ausführlich ein.
Das Resultat ist also bekannt. Doch warum soll gerade das Werkzeug für die städtebauliche Misere verantwortlich sein, welches zur Qualitätssicherung beigezogen wird? Die Antwort darauf ist verhältnismässig offensichtlich. Die Ebene des Städtebaus wird nicht beplant. Zwischen den raumplanerischen Werkzeugen und dem architekturlastigen Wettbewerbsverfahren gibt es keine Zwischenstufe, welche sich mit der Gestalt der Stadt befasst. Weder wird über die Struktur der Stadt nachgedacht, noch über seine Morphologie, geschweige denn über ihren Ausdruck. Auf der einen Seite dieser Planungslücke steht die Räumliche Entwicklungsstrategie (RES). Wie in „Orthographie statt Literatur“ ausgeführt, beschäftigt sie sich mit Fragen des Verkehrs und der Grünraumstruktur. Typologisch unterscheidet die RES bezüglich der offenen Baustruktur lediglich den Zeilen-Geschosswohnungsbau, den Reihen-Einfamilienhausbau und den Doppel- und Einfamilienhausbau. Präzisere Beschreibungen fehlen. Entscheidender aber ist, dass die Entwicklungsstrategie keine Handlungsanweisungen vorgibt. Sie hat den Charakter einer passiven Bestandesaufnahme und nicht jenen einer aktiven Planung. So bleibt es den Architekten überlassen zu interpretieren, was beispielsweise unter Zeilen-Geschosswohnungsbau zu verstehen ist. Die Antworten auf diese Fragenstellung sind vielfältig, genau wie das daraus entstehende Bild der Stadt.
Das Fehlen der strukturellen und morphologischen Ebene im Städtebau Zürichs scheint der vorläufige Höhepunkt einer länger andauernden Entwicklung zu sein. In den letzten hundert Jahren haben sich die städtebaulichen Ordnungsprinzipien Stück für Stück aufgelöst. Das Gewicht der architektonischen Gestaltung nahm hingegen immer weiter zu. Die letzte markante Stadtplanung hat unter Albert Heinrich Steiner (1943 bis 1957) stattgefunden („Ein einig Volk von Häusern“). Dort wurde nicht nur der Verlauf der Strassen festgelegt, sondern die Grösse und Stellung der Häuser. So konnte in der Nachkriegszeit, trotz offener Bebauungsweise, ein übergeordnetes Stadtbild entstehen. Heute ist diese letzte Klammer weggefallen. Die Stadt begnügt sich mit der Entwicklung einzelner Areale, anstatt das Ganze zu lenken. Die Auflösung der formalen Einheit ist die logische Folge. (Weiter bei …)