Der Verlust des Hauses

Der Verlust des Hauses

Was geschieht mit der Stadt, wenn sie nicht mehr länger aus Häusern besteht, sondern aus Baugebilden? Wie wird sie von ihren Bewohnern gesehen und welches Verständnis haben die Bewohner von ihrem Platz in dieser Stadt?

(… vorher) Das Haus ist eine städtebauliche Einheit, welche der menschlichen Auffassungsgabe entgegen kommt. Meist kann es vom Betrachter auf einen Blick verstanden werden: Die Stockwerke müssen, auf Grund ihrer geringen Zahl, nicht gezählt werden. Die Fassadenlänge kann leicht abgeschätzt werden. Sie mag zehn bis zwanzig Meter messen, aber nicht mehr. Das Haus ist in gewisser Hinsicht eine simple Sache.

All dies ändert sich mit der Vervielfachung dieser Dimensionen: Man muss schon die Fenster Zählen um die Stockwerkzahl herauszufinden. Es ist, ohne den Bau ganz abzuschreiten, nicht klar wie lange die Fassade wirklich ist. Der einfache Überblick fehlt. So kann von einem Standpunkt aus kaum festgestellt werden, wie viele Wohneinheiten sich in einem solchen Grossbau befinden. Die Grösse führt zur Unübersichtlichkeit.

Das macht sich in aller Klarheit für den Orts unkundigen Passanten bemerkbar. Es wirkt sich jedoch auch auf den Bewohner aus. Obschon dieser das Bauwerk bestimmt schon zig mal abgeschritten hat, obschon er einen guten Teil seiner Nachbarn kennt und daher die Innere Ordnung der Wohneinheiten abschätzen kann, auch für ihn wird der Komplex nie auf eine direkte Weise verständlich sein. Die Auflösung der Einheit des Hauses führt zum Verlust der Übersicht und schliesslich zum Verlust der Einordnung. Der Bewohner findet sich also in einem Wohnumfeld, dass er nicht zur Gänze begreifen kann – und vielleicht auch nicht begreifen will.

Es ist eine Art der Anonymisierung, die hier von statten geht. Allerdings nicht so sehr eine Anonymisierung des Bewohners in seinem Wohnumfeld, denn die Möglichkeit seine Sozialkontakte mit den Nachbarn auf ein Minimum zu reduzieren, ist alleine durch die Grösse der Stadt gegeben. Es ist in erster Linie eine Anonymisierung des Wohnumfeldes selbst. Durch seine erschwerte Lesbarkeit verlangt die Siedlung nicht nach einer tiefen Auseinandersetzung. Man muss sie nicht verstehen um in ihr zu wohnen. Sie drängt sich nicht auf. Sie ist ein Hintergrundmuster und beansprucht kaum die Aufmerksamkeit des Bewohners. Die Einheitlichkeit der Fassadenstruktur – die sich wiederholenden Fenster- und Balkonelemente – trägt das ihre zu diesem Effekt bei. Der Mensch findet als Bewohner einer solchen Struktur eine gewisse „Geborgenheit“ in der Masse. Er wird zum Fisch in einem Schwarm und so ein bisschen weniger zu einem Individuum. Das nahe Wohnumfeld wirkt damit ähnlich wie die gesamte Stadt – wie eine grosses unüberblickbares Geflecht. Das Muster der Stadt blitzt in der Musterung der Fassade und der Aneinanderreihung der Wohneinheiten auf.

Der Übergang aus diesem Geflecht geschieht abrupt an der Türschwelle der eigenen Wohnung. Die Stadt reicht damit bis kurz vor die Eingangsfussmatte. Das Haus, dass herkömmlich Zwischenstück zwischen Stadt und Wohnung fehlt. So ergiesst sich der Drang nach der Darstellung seines individuellen Lebens in die Gestaltung der Mietwohnung oder in den Träumen von einem Einfamilienhaus im Grünen. Mit dem Verlust des Hauses geht eine wichtige Möglichkeit verloren, sich mit der Stadt identifizieren zu können. Dort wo solche grossen Baugebilde die Stadt prägen, verschiebt sich ihre Lesart hin zu einer gleichmässigeren, unpersönlicheren Stadt. (Weiter bei …)