Starke Stadt vs. starke Architektur

Starke Stadt vs. starke Architektur

Städtebau und Architektur scheinen oft das Gleiche zu sein – besteht doch die Stadt als auch die Architektur aus Gebäuden. Leicht übersehen wird dabei die Differenzen.

(… vorher) Die Preise und Würdigungen lassen keinen Zweifel daran: Die Wohnsiedlung „Vista Verde“ an der Leimbacherstrasse in Zürich Leimbach von Pool Architekten darf mit fug und recht als gute Architektur bezeichnet werden. Archithese schreibt: „Eines der architektonisch besten Projekte, das in Zürich in den letzten Jahren realisiert worden ist.“ (1) Und tatsächlich haben sich die Architekten ein paar besondere Dinge einfallen lassen. Angefangen bei der verschachtelten Anordnung der Wohnungen, über die grosszügigen Treppenhäuser bis zur prägnanten Aussenform. Der wichtigste Entscheid liegt aber in der Wahl der Platzierung der Volumen auf dem Grundstück. Statt einer gleichmässigen Überbauung der Parzelle, entschloss man sich für die Stapelung am Rand. Die Baumasse ist hier in zwei grossen Riegeln gebündelt. Die Qualität, die daraus entsteht ist sofort einleuchtend: eine grosse Freifläche und die unverbaute Aussicht aus den Wohnungen.

Soweit so klar. Doch führt gute Architektur auch zwingend zu gutem Städtebau? Zuallererst muss festgehalten werde, dass überall wo es um Qualität geht unterschiedliche Massstäbe angesetzt werden können. Die Massstäbe der Architekten lassen sich aus ihrer allgemeinen Sicht auf ihr Schaffen ableiten. Auf ihrer Webseite schreiben sie vom Versuch in der Agglomeration Identität zu destillieren (2). Und tatsächlich kann man die Siedlung in Leimbach als Weiterentwicklung aus der vor Ort vorgefundenen Typologie verstehen. Die grossen Bauten erinnern in ihrem Verhältnis von Volumen zu Freifläche durchaus an die städtebauliche Vorgehensweise der benachbarten Bauten aus den Siebzigerjahren. Der städtebaulichen Einbindung ist damit genüge getan. Mit der Formgebung und der Fassadengestaltung überwindet das Projekt schliesslich den Bezug auf die meist negativ beurteilte Epoche und schafft etwas Eigenständiges. Stimmig, lässt sich erneut sagen. Dieser Eindruck bestätigt sich auch vor Ort. Dennoch sei an dieser Stelle ein Aber erlaubt.

Versuchen wir zunächst die architektonische Brille abzulegen, um den Stadtkörper als solches zu betrachten. An der Sihl reihen sich verschiedene Baugebiete wie an einer Perlenkette auf: Nach dem Autobahnkreuz beim Üetlibergtunnel folgt die ehemalige Industriezone Manegg. Daran schliesst auf der anderen Flussseite ein grosses Wohngebiet aus der Nachkriegszeit an. Einfamilienhäuser und lang gezogene Mehrfamilienhäuser bilden eine konsistente Struktur. Dazu trägt die gleichmässige Geschossigkeit und der grosse Anteil Steildächer bei. Dieses Gebiet zieht sich auch nach dem Waldgürtel des Rütschlibach fort. Dann folgt mit dem Hüslibach der Bruch zu Bauten der Siebziger-Achzigerjahre. Im Vergleich zum benachbarten Gebiet besteht hier eine gewisse Unruhe. 15 bis 20-geschossige Hochbauten stehen unvermittelt neben grossen fünfgeschossigen Längsriegeln und vereinzelten Einfamilienhäusern. Getrennt durch den Grünstreifen des Schwarzbaches folgt wiederum ein relativ konsistentes Einfamilienhausgebiet.

An der Grenze zwischen den letzten beiden Zonen befindet sich die Siedlung Vista Verde. Der Übergang zwischen diesen Bereichen tritt uns als Bruchstelle entgegen. Dies ist gerade an der  Architektur des Neubaus ablesbar. Die beiden Häuser formulieren die Grenze der typologisch unterschiedlichen Siedlungsgebiete in baulicher Form. In dieser Grenzfunktion wirft die Architektur grosse städtebauliche Fragen auf. Ist es richtig, dass mit der Stellung der Bauten die Unterschiede zwischen den Bebauungszonen noch zusätzlich gestärkt werden? Wäre hier nicht eine vermittelnde Geste angebracht gewesen?

Das Nein der Architekten auf diese Fragen tritt uns in der Prägnanz des Bauvolumens entgegen. Eine Antwort, die für die Eigentümer und Bewohner zu passen scheint. Die umliegenden Gebiete müssen sich wohl oder übel mit dieser Antwort abfinden. Sie müssen mit der Tatsache  leben, dass hier der formale Bruch und nicht die Einheit durch die Stadtstruktur gesucht wurde. Es ist eine Sache der Perspektive, ob man diesen Schluss für richtig oder falsch hält. Aus architektonischer Sicht gibt es eine Vielzahl an Gründen, welche die Strategie der Autoren rechtfertigt. Aus städtebaulicher Sicht gibt es ebenso gewichtige Gründe, die für eine andere Lösung sprechen. Für die Verstärkung der Grenze an dieser Stelle gibt es keinen offensichtlichen Zwang. Damit wird nur zementiert, was am Siedlungsbild schon vorher unverständlich und eher zufällig wirkte: der Bruch der Bautypologien und der Gebäudekörnung. Mit dieser Zäsur wird einer imaginären, da nur verwaltungstechnisch relevanten, Gemeindegrenze Ausdruck verliehen. Einer Grenze die es aus städtebaulicher Sicht nicht gibt, da die Siedlungsflächen fliessend in einander übergehen.

Hier offenbart sich denn auch die eigentliche Problematik. Sie liegt nicht im Lösungsvorschlag der Architekten oder dem Entscheid der Bauträgerschaft für Effizienz. Sie besteht im Unvermögen der Stadt, übergeordnete städtebauliche Zielsetzungen zu formulieren und über längere Zeiträume hinweg durch zusetzten. Das Ergebnis sind private Einzelinitiativen. Ob dabei eine durchgängige nachvollziehbare Struktur entsteht, bleibt dem glücklichen Zufall überlassen. Einem Zufall der im Falle der Siedlung Vista Verde nicht eingetreten ist. (Weiter bei …)

 

(1) Archithese, No.1 2006, Seite 52-57

(2) http://www.poolarch.ch/buero/portrait/  14.10.2013, Gedanken zu Situierung und Strategien von pool, von André Bideau