Direkte Räumlichkeit
Aus architektonischer Sicht ist die Erschliessung das Interessante an einer Mall. Neben Konzerthäusern, Museen und ein paar Firmenhauptsitzen, gehört die Mall zu den wenigen Bauformen, welche dem Weg zum Ziel einen hohen Stellenwert beimessen.
(… vorher) Die Eigenheit einer Mall besteht darin, dass nahezu alle vertikalen Flächen dem Verkauf von Waren vorbehalten sind. Plakate, Schaufenster und übergrosse Ladenzugänge nehmen einen Grossteil des Sichtfeldes ein. Die Wände, die sonst so zentral die Architektur bestimmen, fehlen im Repertoire der Gestaltung. Übrig bleiben Stützen, Geländer, Treppenläufe, Decke und Boden. Trotz spärlicher Mittel ist eine einprägsame Gestaltung nicht undenkbar. Wenn es gelingt alle Elemente zu einer Einheit zu verbinden, kann gar eine besondere räumliche Wirkung entstehen. Das mehrstöckige Atrium, das die meisten Einkaufskomplexe aufweisen, spielt dabei die Hauptrolle. Nur schon die Raumhöhe ist nicht alltäglich. Hinzu kommt die Belichtung von oben – mal ist es eine grosse Glaskuppel, mal eine Konstruktion aus Trägern mit verglasten Zwischenräumen. Neben Licht und Raumgrösse, steht mit den Elementen der Erschliessung ein drittes entscheidendes Gestaltungselement zur Verfügung. Dieses kann mehr oder weniger ausgeprägt als Skulptur herausgearbeitet sein. Daniel Liebeskinds „West-Side“ bei Bern ist auch hier ein gelungenes Beispiel. Die Rolltreppenläufe liegen dort kreuz und quer im Lichthof und lassen so ein plastisches Gebilde entstehen. Dabei ist das Wort „Plastik“ nicht weit ab von der Realität. Die Beziehung des Betrachters zum Gebilde unterscheidet sich in technischer Hinsicht nicht wesentlich vom Kunstwerk im Museum. Bei beiden Gebilden ist die Bewegung um den Gegenstand möglich. Bei beiden verändert die Bewegung des Betrachters die Wahrnehmung des Gegenstandes.
Das heisst nicht, dass die Treppenanlage und das Kunstwerk gleichgesetzt werden können. Unterschiede zeigen sich nur schon hinsichtlich der künstlerischen Ambitionen. Für die Wahrnehmung des Baus entscheidend ist die Begehbarkeit der Skulptur. Die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten steigert das räumliche Erlebnis. Lifte, Rolltreppen, Rollrampen, Treppen, Rampen – die Mall als Erschliessungswerk von Ladenflächen ist ein Kaleidoskop der skulpturalen Raumerfahrung. Mit dem Fehlen der Wände und dem Fokus auf die Erschliessungselemente verschiebt sich die Raumwahrnehmung. Die äussere Begrenzung lässt sich nicht genau definieren. Schliesslich steckt viel Aufwand in der Bestrebung die Grenzen zu den Ladenflächen aufzulösen. Die Oberfläche, an der man den Raum auf visuelle Art erfährt, lösen sich in den Auslagen der Läden auf. Damit erhält die Bewegung in Bezug auf das Verständnis des Raumes einen hohen Stellenwert. Es ist das Hindurchgehen, dass die Raumerfahrung bestimmt. Man könnte hier von einem ganz direkten Zugang zum Raum sprechen, von einer „direkten Räumlichkeit“. Denn nicht das optische Abmessen steht im Vordergrund, sondern das Körpergefühl des Schreitens. Raum wird nicht nur durch den Blick erfahren, sondern durch die eigene Bewegung.
Im Zusammenhang mit Einkaufstempeln von einer besonderen räumlichen Wahrnehmung zu sprechen scheint auf den ersten Blick abwegig zu sein. Wenn alsdann von skulpturaler Raumerfahrung die Rede ist, könnte der Eindruck entstehen, der Autor suche verzweifelt das Positive in einer sonst so ungeliebten Bauform. Selbstverständlich ist diese Form des räumlichen Erfahrens anderen Orts nicht von den Zwängen des Wahrenverkaufs gestört. Ein Aufgang in einer Oper oder einem Museum wird allein schon durch das Fehlen von Ablenkung intensiver wahrgenommen. Dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass auch in einem solch kommerziellen Umfeld räumliche Qualität möglich ist. (Weiter bei …)