Die Schöne und die Mall
Die Mall birgt genauso wie andere Markt-Ballungsorte ein sehr grosses städtebauliches Potenzial zur Zentrumsbildung. Der gesichtslose Container versetzte der Stadt nicht den Todesstoss sondern brachte ihr einen neuen Kern.
(… vorher) Der Blick des Städtebau-Theoretikers läuft oft Gefahr sich in moralischen Vorstellungen zu verlieren. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Debatte um die Mall. Ihre städtebauliche Rolle wurde und wird negativ eingeschätzt, weil sie den jeweiligen Idealvorstellungen – also den moralisch Richtlinien der Theoretiker – nicht entspricht. Neben den Grössenunterschieden zwischen Mall und Stadtgebäuden wird vor allem die extreme Ausrichtung auf den Konsum beargwöhnt. Sie scheint sich dem Anspruch der Stadt, ein Ort der Kultur zu sein, zu verweigern. Neben begründeten Zweifeln, ob dem tatsächlich so sein muss, geht diese Debatte am Potenzial der Mall und schliesslich auch an jenem der Stadt vorbei. Die Rolle von Marktorten wird unterschätzt. So stimmen die Interessen der Konsumenten mit den Anbietern doch mindestens darin überein, dass die Ballung von Angeboten die Bequemlichkeit des Einkaufens wesentlich erhöht. Eine Erkenntnis übrigens, die nicht erst seit der Erfindung des Einkaufszentrums an der Autobahnausfahrt existiert. Die Markttätigkeit ist vielmehr der Ursprung der Stadt als solches. Erst durch die Zentrumswirkung des Marktes konnte die Stadt an wirtschaftlicher Kraft gewinnen, die Spezialisierung der Berufe vorantreiben und sich so aus dem Einerlei der Dörfer abheben.
Wenn also der Markt des Mittelalters Grund dafür ist, dass sich die Städte herausgebildet haben, warum sollten nicht auch die Einkaufszentren eine solche Wirkung haben? Nirgendwo sonst ist eine derart grosse Dichte an Angeboten vorhanden. Nirgendwo sonst ist es so attraktiv für Kunden ihre Einkäufe zu tätigen. Die Kritiker der Mall haben dieses Potenzial nicht erkannt. Sie haben das Einkaufszentrum, auf Grund seiner introvertierten Architektur als eine hermetisch abgeschlossene Zelle verstanden. Diese Zelle, so die These, funktioniere durch ihre Abgeschlossenheit von der Umgebung. Wo es keine Fenster gibt, wird der Kunde nicht von der Ware abgelenkt. Da es weder physische noch optische Bezüge nach Aussen gibt, ausser der Zufahrt zur Tiefgarage, gelangte man zur Überzeugung, dass die Bauform gar keine Beziehungen nach aussen hätte. Dabei wurde aber ein wesentlicher Mechanismus übersehen. Dort wo viele Menschen hin gehen, so abgeschottet der Raum auch sein mag, besteht eine grosse Anziehungskraft. Bald schon versuchen andere Nutzungen davon zu profitieren. Kleine Geschäfte – Trittbrettfahrer die sich einen kleinen Teil vom Kuchen abschneiden wollen, aber auch grosse Konkurrenten, welche die Vorteile des Standortes ebenfalls erkannt haben, stossen hinzu. Aus dem Gewerbestandort im Nirgendwo eines Autobahnnetzes wird so allmählich eine Zentrumslage. Dem Gewerbe folgen schliesslich die Wohnhäuser. Nicht nur weil es dort Arbeitsplätze gibt, sondern auch wegen dem attraktiven Lebensumfeld. Um das Gewerbe legt sich eine Siedlung und bildet schliesslich eine Stadt.
In der dicht besiedelten Schweiz, wo die Siedlungen an ihren Rändern in einander übergehen, ist diese Entwicklung vorhersehbar und vielerorts bereits Tatsache. Nun ist die Mall nicht in erster Linie der Auslöser für das Wachstum der Stadt. Sie ist aber der Grund, warum die Stadt mit Vorzug an sie heran und um sie herum wächst. Es heisst, dass für die Bewertung einer Liegenschaft drei Faktoren wichtig sind: Die Lage, die Lage und die Lage. In unserem Falle, ist es die Attraktivität der Mall, welche die Lagequalität ansteigen lässt. Der Grund, warum sich die Stadt in einen bestimmten Bereich ausbreitet, muss nicht immer die Seesicht oder der Südhang sein. Wie wir von den herkömmlichen Städten wissen, sind Zentrumslagen überaus begehrt. Daher wird das Potenzial der Mall zur Zentrumsbildung, wider alle städtebaulich-moralischen Bedenken, mit Handkuss begrüsst.
Ein gutes Beispiel für eine solche Entwicklung ist das Glattzentrum und die Ausdehnung von Wallisellen. Über längere Zeit stand der Komplex im offenen Gebiet. Zumindest für den Kunden von weiter her, gab es keine nennenswerten Gründe sonst an diesen Ort zu fahren. Mit der Zeit liess sich eine Verdichtung der benachbarten Industriequartiere beobachten. Heute entsteht direkt neben dem Einkaufszentrum ein neuer Stadtteil. Sehr dicht bebaut, nach dem Vorbild der Gründerzeit, breiten sich Wohn- und Büroflächen vor dem Zentrum aus. Gekrönt durch ein neues Hochhaus, scheint hier zu gelingen, was für unmöglich gehalten wurde. Siedlung und Mall ergänzen sich in ihrer Wirkung auf die Nutzer und verschmelzen zu einer Einheit. Bewohner, Angestellte und Einkaufswillige werden gleichermassen die Vorzüge beider Seiten nutzen. Man geht nach dem Shoppen noch kurz ins Café am neuen Stadtplatz. Man isst in der Mittagspause im Restaurant der Mall. Man geniesst als Bewohner auch unter der Woche die Qualität das breite Angebot der Läden. Beide Nutzungen ergänzen sich bestens. Die Mall ist zwar baulich ein abgeschlossener Container, dennoch findet ein vielseitiger Austausch mit der Umgebung statt. Der Zugang im Erdgeschoss erhält eine neue Bedeutung und eine neue Tramhaltestelle erschliesst die Mall direkt. Das Beispiel zeigt es. Die herkömmliche Stadt und die Mall sind ihrer Natur nach keine entgegen gesetzte Dinge. Sie sind zwei verschiedene Wege Zentren zu schaffen. Doch nicht nur das: die beiden Wege lassen sich zu einer Einheit zusammenführen. Das Sinnbild für diesen Prozess findet sich ebenfalls am Glattcenter. Das neue Hochhaus schmiegt sich in den gleichen Proportionen an das bestehende an – so als schlösse in der Praxis Frieden, was in der Theorie im Streit gelegen hat. (Weiter bei…)