Konzeptuelle Zusammenhangslosigkeit

Konzeptuelle Zusammenhangslosigkeit

Das Palimpsest in Reinform angewandt, sucht keine gestalterische Verbindung zum Bestand. Weder strebt es eine Weiterschreibung noch einen bewussten Gegensatz an. Es sucht die Begründung ihrer Lösungen einzig aus den Anforderungen und gestalterischen Perspektiven der aktuellen Zeit.

(…vorher) Wenn das architektonische Palimpsest als Vorgehensweise definiert wird, welche einen neuen Entwurf unter maximalem Substanzerhalt erzeugt, dann ist die Umgestaltung des Verwaltungsbaus in Givisiez nur ein halbes Palimpsest. Der Erhalt der Rohbausubstanz spricht für seinen Palimpsestcharakter. Der Bezug auf das historische Bild spricht dagegen. Die Palimpseststrategie radikal angewandt, ermöglicht das bewusste Ausblenden jeglicher gestalterischer oder historischer Zusammenhänge mit dem Bestand. Was aber sind die Auswirkungen dieser Strategie?

Die alte Substanz des Verwaltungsbaus in Givisiez ist von aussen komplett überformt worden: Anbau, Aufstockung und Fassadenaustausch lassen kein Stück des ursprünglichen Hauses mehr erkennen. Hätten die Architekten sich für ein anderes Fassadenraster entschieden, dann hätte es nicht einmal einen Verweis auf die Vergangenheit gegeben. Für nicht Eingeweihte wäre das Haus nur noch als Neubau zu erkennen gewesen. Radikal umgesetzte Palimpseste führen in der Architektur also zu einer vollständigen Überblendung der alten Substanz. Der Denkmalschutz kann dann, noch eine Plakette neben der Haustüre anbringen, mit der auf die alte Substanz hingewiesen wird.

Doch so einfach ist es nicht in jedem Fall. Schliesslich ist die Fassade nicht bei allen umbaubedürftigen Bauten mit Asbest verseucht. Was also, wenn eine ergänzende Fassadenebene die bauphysikalischen Anforderungen erfüllen kann? Was, wenn die bestehende Teile nicht nur im Hintergrund stehen, sondern auch nach der Sanierung sichtbar bleiben?

Es lässt sich annehmen, dass dann die genau gleichen Abhängigkeiten zwischen alter und neuer Struktur zum Thema werden, wie dies bei einer auf historisch sensiblen Planungsstrategie der Fall ist. Schliesslich müsste sich der Architekt nur schon deshalb mit den Achsen und Abstände der bestehenden Fassade auseinandersetzen, weil seine Zusatzschale auf die bestehende Ebene befestigt wird.

Der Unterschied liegt darin begründet, dass sich der Architekt im historisch sensiblen Fall mit einer tatsächlichen Beziehung zwischen den alten und neuen Elementen beschäftigt, wogegen für das palimpsesthafte Vorgehen nur die konstruktive Abhängigkeit von Interesse ist.

Die gestalterischen Resultate von palimpsesthaften und historischen Vorgehensweisen können sich stark unterscheiden. Indem sich der Architekt nicht vordringlich auf die historische Ebene des Bauwerkes bezieht sondern nur praktischen Massstäben unterliegt, gewinnt er die Freiheit selbst über die Gestalt seines Eingriffes zu bestimmen. Wogegen im historischen Fall jegliche Gestaltung vom bestehenden ausgeht.