Palimpsest, Nachbildung in Givisiez
Wie sich die Anwendung eines architektonischen Palimpsestes auswirkt kann, lässt sich am besten anhand von Beispielen diskutieren. Unlängst wurde ein Verwaltungsbau in Givisiez breit diskutiert das als Palimpsest bezeichnet werden könnte.
(…vorher) Im Werk, Bau und Wohnen (1) wurde der Umbau von Bart+Buchhofer Architekten in drei aufeinander bezugnehmenden Beiträgen besprochen. Robert Walker formuliert nach einer Erläuterung des Entwurfs seine Irritation über dessen Wirkung. So wurde die Fassade des als Provisorium erstellten Baus, auf Grund seines Aspestgehaltes komplett entfernt und mit neuen Profilen nachgebildet. Zudem wurde das Haus mit einem Anbau verlängert und aufgestockt. Dabei überspannt das Aufstockungsgeschoss einen Leerraum zwischen Ursprungsbau und Anbau. Die Kombination dieser Eingriffe erzeugt für den Architekturkritiker Robert Walker eine erschwerte Lesart, da die Fassadenstruktur auf die Sechzigerjahre verweise, die Überspannung aber klar aus der heutigen Zeit stammen müsse.
Auf dieses Unwohlsein äussert sich der Architekt selbst zu Wort. Stephan Buchhofer spricht den sinnstiftenden Charakter der Gebäude an. Das reine Vorhandensein der Substanz hat für Ihn noch keinen Wert. Er stellt die Absichten der alten Autoren über die materielle Realität und leitet daraus dir Berechtigung dafür ab, das Bauwerk im Geiste seiner Vorgänger weiter zu stricken. Es geht ihm dabei nicht um den Erhalt von materieller Substanz, sondern um den ideellen Wert des Gebäudes.
Als Dritter äussert sich Bernhard Furrer, emeritierter Professor der Accademia Mendrisio und ehemaliger Präsident der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. Furrer verwehrt sich gegen die von Buchhofer skizzierte ideelle Substanz. Da die Sicht auf Ideen eine sehr bewegliche Angelegenheit sei und sich der Uminterpretation nicht verwehren könne, sei nur die Substanz im Stande, jeder Generation die Grundlage für ihre eigene Interpretation zu liefern:
« Die überlieferte materielle Substanz, soweit sie intakt ist, ist unbestechlich und kann immer wieder befragt werden, um Antworten auf neue, aktuelle Fragestellungen zu gewinnen.»
Es scheint die Fronten zwischen Buchhofer, Furrer und Walker sind nicht zu überwinden. Doch die Interpretation des Bauwerkes als Palimpsest kann möglicherweise weiterhelfen. Denn sie interessiert sich genau für den oben beschriebenen erhalt der Substanz, nicht aber für den Erhalt des damit oft gleichgesetzten Sinnzusammenhangs.
Buchhofer könnte beispielsweise argumentieren, dass er nach Kräften alle noch funktionierenden und nicht mit Schadstoffen versehenen Bauteile erhalten konnte. Dank seines Vorgehens, ist es möglich diese verbleibenden Bauteile von immer Neuem zu befragen. Damit ist dem Forscherdrang der Nachwelt Genüge getan und die Denkmalpflege zufrieden gestellt.
Das Unbehagen Walker’s kann damit aufgelöst werden, in dem er bewusst nicht nach einer ursprünglichen Architektur sucht. Man soll den Dingen so begegnen wie sie wirken. In diesem Falle kann dem Bau durchaus eine Inspiration durch die Sechziger attestiert werden, die Profile und Bauteile sind aber klar neueren Datums und daher erübrigen sich zeitlichen Ratespiele. Was tatsächlich im Gebäude selbst steckt, aus welcher Bauzeit der Betondecken und die Stützen stammen, ist letzten Endes doch nur für den Historiker von Belang.
Den Umbau in Givisiez als Palimpsest zu verstehen hiesse also, das erneuerte und erweiterte Bauwerk als eine aktuelle Architektur zu verstehen auch wenn Teile davon aus einer anderen Zeit stammen. Die Wirkung, Nutzung und Sinngebung des Gebäudes dienten dann alleine den heutigen Bedürfnissen. Dass sie sich dabei einer alten Substanz bedienten wäre dabei nebensächlich. (Weiter bei…)
(1) Werk, Bau und Wohnen, 2010-1/2, 2010-10, 2018-03