Palimpsest, Erhalt durch Auflösung
Wie könnte ein architektonisches Palimpsest aussehen? Welches sind seine Eigenschaften und welches seine Vor- und Nachteile? Ein Definitionsversuch:
(…vorher) Aufbauend auf dem primären und historischen Palimpsest ist das architektonische Palimpsest eine Strategie mit alter Substanz umzugehen, in dem sie den bestehenden Sinnzusammenhang auflöst und durch einen neuen ersetzt. Die Auflösung wird dabei mit dem notwendigen Minimum der Zerstörung erzeugt. Damit wird die Substanz zu grossen Teilen erhalten und für die neuen Absichten als Rohstoff nutzbar gemacht. Dies ermöglicht zum einen Einsparungen von grauer Energie und zum anderen die Konservierung des alten Bauwerkes. Dieses tritt zwar durch den neuen Sinnzusammenhang in den Hintergrund oder wird gänzlich überdeck, ist aber für die Forschung immer greifbar.
Da sich die Löschung auf den Sinnzusammenhang und nicht primär auf die Substanz bezieht, wird eine neue Umgangsweise mit dem Bestand eingeführt. Die zu Anfang der Serie genannten, gegenläufigen Interessen am Bestand, von Seiten Bauherrschaft, Architekt und Denkmalschutz, können so mindestens teilweise aufgelöst werden.
Allerdings ist diese neue Einigkeit nicht ohne Kompromissbereitschaft zu haben. Alle Interessensbereiche müssen auf eine maximale Erfüllung Ihrer Ziele verzichten. So kann die Bauherrschaft unter Umständen nicht die ganze Mehrausnützung konsumieren oder muss Funktionale Einbussen hinnehmen. Die Architekten müssen bereit sein, sich auf die Einschränkungen des Bestandes einzulassen. Und zu guter Letzt muss auch der Denkmalschutz auf einen Anteil der Substanz und die Sichtbarkeit des Baudenkmals verzichten.
Ob sich die Parteien auf einen solchen Kompromiss einlassen können, ist letztlich davon abhängig, wie stark das spezifische Projekt von den jeweiligen Maximalforderungen abweicht. Möglicherweise lassen sich Ressentiments abbauen, in dem transparent dargestellt wird, wie grosse die Abweichungen in Prozent sind. Ein Nutzwertvergleich zwischen der optimalen Neubauvariante und dem Palimpsest kann die finanziellen Einbussen für die Auftraggeberseite aufzeigen. Eine Bezifferung des kulturellen Wertes der verschiedenen Teile des Bestandes bildet die Grundlage zur Quantifizierung der Zerstörung des Bestandes.
Letzten Endes handelt es sich bei diesen Überlegungen um die Abwägung zwischen wirtschaftlicher Überlebensfähigkeit und geschichtlicher Fürsorge – beides Werte, die für die Gesellschaft unabdingbar sind. Es ist daher erstrebenswert, wenn diese Interessenssphären in einen konstruktiven Dialog treten, anstelle sich in Grabenkämpfen zu verlieren. (Weiter bei…)