Retro als Konfliktzone
Zwischen Modernisten und Traditionalisten tobt eine Auseinandersetzung. Das heisst, die unterschiedlichen Haltungen bleiben meist im Verborgenen. Zum Ausdruck kommen sie höchstens durch die Sprichwörtliche Faust im Sack. Für einmal trat diese versteckte, gegenseitige Abneigung aber dennoch zu Tage:
(…vorher) Jürg Graser schrieb im Werk Bau Wohnen 3-2016 über den Retrotrash. Er klagt den architektonischen Rückbezug auf das 19. Jahrhundert in der Stadt Zürich an. Die Lösungen des vorletzten Jahrhunderts bieten seiner Ansicht nach keine Antworten auf heutigen Fragestellungen. Vielmehr bringe die Ästhetik den gesellschaftlichen Konservatismus seiner Entstehungszeit wieder aufs Tapet. Nach Graser sollte sich der Ausdruck der Architektur aus den technischen Errungenschaften her entwickeln, da die Technik zur Art unseres Lebens den Hauptbeitrag leiste. Vordringlich hat er dabei die Konstruktion als Impulsgeber im Sinn. Sie sei der prägende Faktor aus welchem sich der Charakter des Gebäudes ableite.
Im Werk Bau Wohnen 4-2017 vertritt Lukas Imhof eine Gegenposition zur Kritik Grasers. Zunächst stellt er in Frage, dass sich die Form der Architektur tatsächlich nur aus der Konstruktion ableiten lässt. Architektur sei nicht nur ein Resultat der technischen Bedingungen der Zeit, sondern stelle sich auch auf eine Vielzahl andere Faktoren ab. Der Einbezug von historischen Erfahrungen, der Respekt vor Konventionen und die Adaption von Traditionen sei ebenfalls zu berücksichtigen. Daher plädiert Imhof für eine bewusste Haltung zum Bestand des Ortes und zur Geschichte der Architektur. Der Rückgriff auf ältere Vorbilder stelle keine Kopie dar, sondern sei als Reformarchitektur zu verstehen. Hier wird eine kontinuierliche Weiterentwicklung angestrebt.
So stehen sich die beiden Positionen also unversöhnlich gegenüber. Von aussen Betrachten lassen sich Sympathie für beide Lager rechtfertigen. Man versteht Imhof, der die Architektur nicht auf den Gestaltungsfaktor Konstruktion reduziert sehen möchte und man kann es Graser nachfühlen, wenn es ihn vor aufgewärmten Architekturbildern schaudert. Beide bringen zur Stützung ihrer Position ein ganzes Arsenal an Gründen vor. Man wird aber das Gefühl nicht los, dass es sich bei diesen Argumenten letztendlich bei beiden Kontrahenten um eine Rechtfertigung im Nachhinein handelt. Es lässt sich die These aufstellen, dass dieses Streitgespräch, das sie mit genüsslicher Vehemenz führen, vom Geschmack angetrieben wird. Die Eigene Art zu gestalten wird als einzig richtige Verstanden.
Wenn auch im Ansatz von Imhof etwas mehr Flexibilität zu erkennen ist, als in der Haltung von Graser, haben sich die beiden Exponenten doch tief in eine Thematik eingegraben. Solche Gräben haben es leider an sich, dass man zuweilen den Blick auf das Andere verliert. Was die Schaffung von Architektur betrifft gibt es aber nicht nur die beiden hier vorgestellten Haltungen. Gute Architektur kann noch auf eine Menge anderer Wege entstehen. (Weiter bei…)