Teil 2, Klarheit und Mehrdeutigkeit
Moholy-Nagy’s Verständnis von Transparenz scheint den Glasarchitekturen näher zu sein. Für ihn bedeutet Durchsichtigkeit Übersicht und Klarheit. In seiner Zukunftsvision für die Stadt nennt er Transparenz in einem Zug mit Sauberkeit und Hygiene (1). Auf die Architektur bezogen stellt Transparenz für ihn die Abkehr von schweren, massiven Volumen dar.
(…vorher) Durch grossformatige Fenster, eingesetzt in filigranen Stahlrahmenkonstruktionen, entstehe der Eindruck von Leichtigkeit und die Möglichkeit eines uneingeschränkten Ausblicks. Doch im Glas sieht Moholy-Nagy nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zur wirklichen visuellen Durchlässigkeit von Gebäuden. Warmluftvorhänge sollten es dereinst ermöglichen, Gebäude ganz ohne feste Materialien zu verwirklichen. Es stehen sich also zwei Positionen zur Transparenz gegenüber: Auf der einen Seite Moholy-Nagy mit der Klarheit der Durchsicht und auf der anderen Seite Kepes mit der Mehrfachdeutung.
Offensichtlich wird dies in der unterschiedlichen Interpretation der Röntgenaufnahme. So ist diese für Kepes ein Beispiel für die Verunklärung der Gegenstände und ihrer Position durch deren Überlagerung. Seine rein graphische Analyse veranlasst ihn in den Überschneidungen das Fluktuieren der konstruktivistischen Bildkomposition wieder zu entdecken. Lásló Moholy-Nagy rückt dem gegenüber die Sichtweise des Arztes in den Vordergrund. Für diesen findet eine solche Fluktuation nicht statt, weil er gelernt hat die Flächen und Umrisse zu deuten. Sie sind das Abbild von Organen, die ihren festen Platz im Körper haben. Die Röntgenaufnahme soll Klarheit über mögliche körperliche Schäden bringen. Die Fachperson ist also in der Lage, das Abbild in Bezug zum Abgebildeten zu lesen und zu verstehen. Die Röntgenaufnahme wird damit zum Sinnbild für Durchblick und Klarheit.
Neben diesen, auf eher künstlerische Bereiche bezogenen Anwendungen der Transparenz, sieht wiederum Kepes deren Prinzipien auch in allen anderen Disziplinen verwirklicht. Transparenz sei ganz allgemein als Mittel der Integration disziplinfremder Informationen zu verstehen. Ein Verfahren, welches in allen Wissenschaften und Künsten Anwendung finde. Das Beispiel der Radiowelle zeige, dass wir sogar in unserem Alltag ganz selbstverständlich mit der Durchdringung umgingen (2).
Welche Disziplinen und Übertragungsvorgehensweisen Kepes hier genau im Visier hatte wird aus seinen Ausführungen leider nicht ersichtlich. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass sich die unterschiedlichen Felder des menschlichen Denkens gegenseitig beeinflussen. Ob sie dies aber durch Überlagerung tun, wie dies Kepes vermutet, bleibt nachzuweisen. Seine eigenen Übertragungen aus anderen Disziplinen sind dabei eher entmutigend. Gerade die Radiowellen entsprechen nicht seiner Vorstellung einer Durchdringung ohne gegenseitige optische Zerstörung. Diese sind bekanntlich nicht im menschlichen Sehspektrum angesiedelt und können von dessen Phänomenen folglich weder verdeckt noch erhalten werden.
Hinsichtlich des Wirkungsfeldes von Transparenz lässt sich Lásló Moholy-Nagy nicht so weit auf argumentatives Glatteis hinaus, wie Kepes dies tut. Seine Verweise auf dieses Phänomen sind recht kurz gehalten und stehen nicht im Zentrum seiner Untersuchungen. Dennoch lassen sich bei ihm ähnliche Bemühungen zu einem alles umfassenden Begriff feststellen. Es ist sein Konzept der Vision in Motion, dem er einen fast uneingeschränkten Wirkungsradius zugesteht. Dabei überschneidet sich der Begriff auch mit seiner Transparenzdeutung. In der Simultaneität, die für ihn aus der Bewegung zu entstehen scheint, sieht er die Möglichkeit isolierte Dinge als Ganzes wahrzunehmen. Vision in Motion gilt ihm damit als eine Art des Überblicks, als eine umfassende Wahrnehmung:
„vision in motion is simultaneous grasp. Simultaneous grasp is creative performance-seeing and thinking in relationship and not as a series of isolated phenomena. It instantaneously integrates and transmutes single elements into a coherent whole. This is valid for physical
vision as well as for the abstract.” (3)
Durch die Bewegung sieht sich Moholy-Nagy dem Arzt, der auf das Röntgenbild schaut, ebenbürtig. Alles zeigt sich im selben Moment und ist in seinen Zusammenhängen erkennbar. Diese Schlussfolgerung wirft aber einige Fragen auf: Bedeutet das Sehen in Bewegung wirklich simultanes Begreifen? Ist simultanes Begreifen überhaupt möglich? (Weiter bei…)
(1) Moholy-Nagy Lásló, Vision in Motion, Chicago: Paul Theobald and Company, 1956, S. 109
(2) Kepes György, Sprache des Sehens, Mainz: Kupferberg, 1970, S. 63
(3) Moholy-Nagy Lásló, Vision in Motion, Chicago: Paul Theobald and Company, 1956, S. 12