Teil 1, Durchsicht versus Bewegung
Siegfried Giedion brachte mit seiner gewagten Gegenüberstellung von Picassos Gemälde L’Arlésienne und Walter Gropius’ Werkstattflügel des Bauhauses in Dessau den Stein des Transparenzdiskurses ins Rollen. Seine Absicht war es, das in der modernen, bildnerischen Kunst entwickelte Raumverständnis der “Wahrnehmung in Bewegung” auch für die Architektur nachzuweisen.
(…vorher) Das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts neuartige Konzept der “Wahrnehmung in Bewegung” beruht auf der Ablösung des starren und eindeutigen Betrachterstandpunktes der Zentralperspektive durch einen bewegten, stetigen Perspektivenwechseln unterworfenen Blickpunkt. Das Gebäude der Bauhausschule sollte als erstes Beispiel für den gelungenen Transfer dieser Theorie in die Architektur dienen. So argumentiert Giedion, auf die verglaste Überecksituation des Bauhauses Bezug nehmend:
„Die Glaswände flossen ineinander, gerade an dem Punkt, wo das menschliche Auge gewohnt war, einen sichernden Pfeiler vorzufinden. Manifestartig erschien hier zum ersten Mal in einem grossen Komplex die Durchdringung von Innen- und Aussenraum, wie in Picassos L’Arlésienne von 1911 bis 1912 mit seiner simultanen Darstellung von Profil und en face eines Gesichtes, wie sie hier in die Architektur übersetz wurde und gleichfalls mit dem einzigen Blickpunkt brach. Es existierte beim Bauhauskomplex keine bestimmte Frontansicht. Das Spiel der Transparenz, […] führte zu einer bis dahin ungewohnten Simultaneität, die der raumzeitlichen Konzeption entsprach.“ (1)
Ausgehend von den Glasvorhangfassaden, welche durch Leichtigkeit und Durchsicht bestechen, versucht Giedion also eine Verbindung zur Bildkomposition Picassos herzustellen. Die schwerlich nachvollziehbare Gleichstellung der Verhältnisse Innen/Aussen, Frontsicht/Profil zeigt jedoch die Schwierigkeit dieses Unterfangens. Die reine Durchsicht eines Materials hat mit der bewegten Wahrnehmung des Betrachters nicht viel gemein. Obwohl in einem Rundgang um und im Gebäude, sowohl das Vordere und Seitliche, wie auch das Innere eines Gegenstandes begutachtet werden kann, basiert dies nicht auf denselben Prinzipien wie die Transparenz. Es benötigt keinen Spaziergang, damit Transparenz erfahren werden kann. Zwar spielt auch bei der Transparenz Bewegung durchaus eine Rolle, wie wir später noch sehen werden. Sie ist jedoch gänzlich anders geartet. Mit der Wahrnehmung in Bewegung, wie sie von György Kepes und Lásló Moholy-Nagy postuliert wurde, hat sie nichts zu tun.
Das Interesse an der Materialdurchsicht, war mit der These von Giedion aber geweckt. Transparenz sollte im Nachgang zu einem entscheidenden Merkmal einer Architektengeneration werden. (Weiter bei…)
(1) Raum, Zeit, Architektur; Giedion Sigfried; Basel: Birkhäuser; 2000, S.311