Teil 1, Die Auflösung der Hierarchie
Zwischen der Wirkungsweise der Materialtransparenz und den kubistischen Bildkonzepten gibt es eine unübersehbare Differenz. Dennoch hat Giedion versucht diese beiden Themen zusammenzubringen.
(…vorher) Dabei war es wohl nicht seine primäre Absicht die beiden Vorstellungen einwandfrei zur Übereinstimmung zu bringen. Vielmehr versuchte er das Wort Transparenz als Sinnbild für die kubistische Durchdringung zu etablieren, welche sich seiner Ansicht nach auch in der Architektur wiederfinden liess. Im dreidimensionalen Raum der Architektur soll uns diese kubistische Darstellung als spezifische Art der Volumenkomposition erscheinen. Wichtig ist Giedion dabei das Zusammenspiel der Gebäudekörper, welche ineinander greifend, einen bevorzugten Betrachterstandpunkt ausschliessen:
„Die Essenz des Raumes, wie er in seiner Vielfalt erfasst wird, besteht in den unendlichen Möglichkeiten seiner inneren Beziehungen. […] Der Kubismus brach mit der perspektivischen Auffassung der Renaissance. Er sah Objekte gleichsam relativ, von verschiedenen Standpunkten aus, von denen keiner absolute Autorität über die anderen hatte. Indem er Objekte zerlegte, transparent sah, erfasste er sie gleichzeitig von allen Seiten, von oben und unten, von innen und aussen.“ (1) und später: „Die Kuben wurden einander gegenübergestellt und miteinander in Beziehung gesetzt. (2)
Anstatt der symmetrischen Zentrierung kommt also ein neues Ordnungsprinzip zum trage, jenes der komponierten Bezugsnahme unter gleichwertigen Elementen. Das kubistische Zerlegen, welches das Erfassen von allen Seiten ermöglicht, führt im Zusammenhang der modernen Architektur also nicht zum Auseinanderfallen der Gebäudekomposition. Die einzelnen Fragmente werden in der Kombination durch das Gedächtnis wieder zu einem Ganzen verbunden, zu einer Synthese gebracht.
Das Verständnis der modernen Raumkonzeption, welche Giedion entwickelt, hat mit der simplen Materialtransparenz von Glas demnach nicht viel gemein. Damit stellt sich die Frage, ob das Wort Transparenz in seinen Erläuterungen nicht mehr Verwirrung stiftet, als Klärung schafft. Macht es Sinn einen Begriff einzuführen, wenn er nicht wörtlich sondern im übertragenen Sinn angewandt werden muss? (Weiter bei…)
(1) Raum, Zeit, Architektur; Giedion Sigfried; Basel: Birkhäuser; 2000, S.280
(2) Ebd., S.313