Neuer Städtebau in alten Schläuchen
Wenn wir uns der denkmalpflegerischen Scheuklappen und dem rigiden Epochendenken der Moderne entledigen, was würden wir bei der Wiederverwendung des mittelalterlichen Städtebauprinzips gewinnen?
(…vorher) Über die Vorteile des flexiblen Ordnungsprinzips und der Qualität des malerischen Flairs haben wir bereits gesprochen. Auch hinsichtlich der autofreien Erschliessung nimmt die Altstadt eine Vorreiterrolle ein. Zudem ist sie kompakt gebaut und darf damit als Energieeffizient gelten. Noch viel wichtiger aber ist, dass sie trotz ihrer Dichte ein reichhaltiges Bild erzeugt. Das liegt an der kleinteiligen Gliederung. Die Wohn- und Arbeitseinheiten, welche jede Stadt aufweist, werden abgebildet und verlieren sich nicht in einer grossen, gesichtslosen Form. In ihrer Struktur und Gestalt ist die Altstadt auf die menschliche Wahrnehmung ausgerichtet. Dies ganz im Gegensatz zum Massstab der Moderne: dort interessierte man sich für die Ergonomie des Menschen oder für die Entwicklung geometrischer Verhältnisse aus den Körperproportionen – Neufert und Modulor lassen grüssen. Die Form der Altstadt wirkt hingegen auf der visuellen Ebene. Die Fassaden und Plätze haben für den Passanten eine angenehme Grösse. Die Räume sind spannend geformt und interessant detailliert.
Neben den formalen Aspekten impliziert die mittelalterliche Stadt aber auch ein gesellschaftliches Modell. Über die Eigentumsverhältnisse haben wir ebenfalls schon gesprochen. Der Erhalt der kleinteiligen Struktur macht es notwendig, dass es viele kleine Grundbesitzer gibt und keine grossen Investoren. Ob ein solches Konzept in der heutigen Zeit noch Platz findet, ist fraglich aber nicht undenkbar. Die Antwort auf diese Frage ist eng mit der zweiten gesellschaftlichen Eigenheit der Altstadt verbunden. Gewerbe- und Wohnnutzungen sind hier in idealer Symbiose verbunden. Die Kernstadt ist ein Ort, an dem die Einheit von Wohnen und Arbeiten noch nicht durch die moderne Ideologie aufgelöst wurde. Hier konnte sich das Kleingewerbe in den Erdgeschossen bis heute halten. Die Folge davon ist eine lebendige Stadt, die nicht nur zum Schlafen genutzt wird.
All diese Qualitäten sind mit dem Zellenprinzip der Altstadt zu gewinnen. Aber ist es nicht dennoch seltsam, alles zu kopieren? Müsste die Stadt nicht doch den Veränderungen der Gesellschaft reagieren? Passen die alten Städtebauprinzipien noch in die heutige Zeit? Alle drei Fragen können mit ja beantwortet werden: ein einfaches Kopieren ist nicht die Lösung. Es kann auch eine zeitgemässen Ästhetik angestrebt werden. Wichtig ist nur, dass sie sich nicht gegen die Kleinteiligkeit und Reichhaltigkeit der Struktur stellt. Auch auf die aktuellen gesellschaftlichen Eigenheiten soll eine Stadt Bezug nehmen. In einer Neugründung wären beispielsweise Tiefgaragen kein Tabuthema. Aber selbst sichtbare Elemente liessen sich in die Stadt einbringen: angemessen gestaltet, könnten überdachte Passagen als Weiterentwicklung der Lauben verstanden werden. Grosse Nutzungen könnten der Platzierung von Kirchen entsprechend in die ansonsten kleinteilige Struktur eingepasst werden. So ist es möglich die Errungenschaften der Dienstleistungs-, Konsum- und Freizeitgesellschaft mit der malerischen Form und der flexiblen Struktur der mittelalterlichen Stadtsystematik zu verbinden.