Komplexität programmieren

Komplexität programmieren

Was bedeutet Wachstum im Zusammenhang mit der Stadtentwicklung und lassen sich Prozesse, welche mit Wachstum umschrieben werden, in die Planung von Neugründungen miteinbeziehen?

(… vorher) Für die mittelalterliche Stadt gab es zunächst nur ein Wachstum nach Innen. Die Stadtmauern waren gezogen und es war am einfachsten in deren Schutz zu verdichten. Dann folgten auch Erweiterungen ganzer Stadtteile. Was sich bis dahin an Stadtveränderung abgespielt hatte, war, um es mit Mörsch zu sagen (1), das Resultat von vielen kleinen Einzelinterventionen innerhalb der gegebenen Eigentumsgrenzen. Diese Interventionen haben sich aber nicht im luftleeren Raum abgespielt. Die Bauherren waren gezwungen auf die jeweiligen Verdichtungen der Nachbarn zu reagieren. Man könnte diesen Prozess als eine Aufschaukeln der Volumen beschreiben. Auch wenn im Einzelnen konkrete Entscheide der Eigentümer hinter diesem Prozess standen, kann dieser übergeordnet als etwas Natürliches angesehen werden. Denn die Massnahmen folgten in ihrer übergeordneten Stossrichtung den logischen Prinzipien der Optimierung. Wachstum bedeutet in diesem Falle also keinen biologischen Vorgang, sondern einen selbstständigen, selbstregulierenden Entwicklungsprozess.

Ein solcher Vorgang kann auch mit dem Computer berechnet werden. An der ETH Zürich findet ein Forschungsprogramm zu diesem Thema statt. Ludger Hovestadt experimentiert mit seinem Team an der ETH beispielsweise mit der Kaisersrot-Software (2), bei denen sich Siedlungsstrukturen, entlang von vorgegebenen Parametern, selbstständig entwickelt. Der Computer errechnet dabei die Anordnung der Teile und optimiert die Struktur nach den vorgegebenen Faktoren. Aufhorchen lässt dabei die Tatsache, dass die formalen Ergebnisse den Altstadtstrukturen sehr ähnlich sind. Es werden zwar grundsätzlich rechteckige Baufelder angestrebt, der Computer passt diese aber an und generiert so eine Siedlungsstruktur aus schrägen Linien und Polygonen.

Zur Entwicklung der Altstadt gibt es, trotz formaler Ähnlichkeiten, grosse Unterschiede. Der mittelalterliche Kern ist in seiner Grundform geplant. Auch wenn die Strassen gebogen sind, ist das keine Folge des Wachstums. Die verzogenen Parzellen  resultieren aus der Aussenform und sind damit ebenfalls Produkte der Planung. Der Ort der Freiheit in der Altstadt liegt in der Überbauung der Parzelle selbst. Dort findet so etwas wie Wachstum nach logischen Regeln statt.

Auch ein solcher Vorgang kann mit dem Computer nachgestellt werden. Es ist lediglich eine Sache der Vielschichtigkeit von Parametern und dem Integrieren von irrational wirkenden Einzelentscheiden um dem Beispiel aus der Geschichte nahe zu kommen. Mit den richtigen Parametern kann eine über Jahrhunderte entwickelte Stadt in wenigen Minuten generiert werden. Für den Historiker hat diese Stadt zwar keinen Wert, denn ihre Entstehung hat keinen Bezug zur realen Geschichte. Für den Städtebauer stehen jedoch die Vorteile aus dem Wachstumsprozess im Vordergrund, auf welche er nicht Jahrhunderte hat warten müssen. Der Prozess ist damit nicht mehr ein unbeeinflussbarer Ablauf von Einzelentscheiden. Für den Planer wird er zu einem Werkzeug, dessen Resultate er beurteilen und manipulieren kann. Mit Hilfe des Computers können die Vorteile einer Altstadt schon in einer Neugründung mit eingebaut werden. (Weiter bei …)

(1) Georg Mörsch, Denkmalverständnis, Vorträge und Aufsätze 1990-2002, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, 2004, S. 132
(2) Ludger Hovestadt, Jenseits des Rasters, Architektur und Informationstechnologie, Anwendung einer digitalen Architektonik, ETH Zürich CAAD, Birkhäuser, 2010,