Wiel Arets, Poetische Bildlichkeit
Poesie kann uns als etwas gelten, das sich der Sprache entzieht. Poesie geht mit Hilfe der Sprache über sie hinaus. Sie ist wenig greifbar und dennoch vielsagend. Wie lassen sich solche Effekte in der Architektur erzeugen?
(…vorher) Bewegt sich die Architektur an der Grenze zur Kunst, wie es die Uni-Bibliothek in Utrecht mit ihren Fassadenelementen tut, dann ist auch eine poetische Wirkung nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Wie im Text „Spiel mit der Bildlichkeit“ beschrieben, sorgen die schwarzen Betontafeln durch ihre Reliefoberfläche für ein interessantes Spiel der Interpretationen. Sie erinnern an die plastische Arbeit eines modernen Künstlers. Gleichermassen lassen sich Ähnlichkeiten zu mesapotamischen Flachbildern (9 Jh. v. Chr.) oder ägyptischen Steintafeln (z.B.: Echnaton 1340 v. Chr.) feststellen. Die Tafeln bilden für sich alleine genommen ein ausdruckstarkes Werk. Sie kreieren einen Schwebezustand zwischen Skulptur, Materialität und Bild. Keines der Attribute wird bevorzugt. Gleichsam profitieren alle Attribute voneinander. Denn ohne das Relief erhielte das Bild nicht seine Kraft und das Material nicht seine Struktur. Durch Materialität und Farbigkeit gestaltet sich der Ausdruck von Bild und Form. Das Bild wiederum steuert den Inhalt und die Struktur für Form und Material. Dieses Zusammenspiel macht die Fassadentafel schliesslich zu dem was sie ist: Ein vielfach lesbares, ästhetisch wirksames Objekt.
Ob diese Eigenschaften ausreichen um die Fassadentafeln als Kunst zu klassifizieren, muss jeder Betrachter für sich selbst entscheiden. Dies ist dem Definitionsdefizit der Kunst selbst verschuldet. Dass es aber Ansatzpunkte gibt, die eine solche Klassifikation rechtfertigen könnten, ist kaum zu bestreiten. Ähnlich verhält es sich mit dem Anspruch an einen poetischen Ausdruck. Die verschiedenen Sicht- und Interpretationsweisen fördern diese Wirkung. Die Vieldeutigkeit und Wahrnehmungsdichte machen aus der Fassadentafel ein potentiell poetisches Element.
In dem Masse wie das Thema der Tafeln in Verbindung mit der Nutzung des Gebäudes steht, kann auch die Architektur als poetisch angesehen werden. Bei der Uni-Bibliothek ist dieser Zusammenhang ein sehr enger. So verweist die Tafel auf das Buch und dessen Herstellung. Gerade durch die Anbringung der Tafel auf das Bibliotheksvolumen gewinnt die Tafel selbst einen tieferen Sinn. Aber auch umgekehrt besteht eine Abhängigkeit. Denn gäbe es die Relieftafeln nicht, fehlte dem Gebäude sein wesentlicher Ausdruck. Es wäre vielleicht mit anderen Mitteln im Stande seinen Inhalt nach aussen zu kommunizieren, aber es täte dies nicht mit der Intensität und Schönheit dieser spezifischen Oberfläche.
Die Fassade ist damit ein Teil der Architektur. Nicht nur im konstruktiven Sinne, sondern mehr noch in ideeller Hinsicht. Also ist es die Architektur selbst, welche das poetische Potenzial in sich trägt, verkörpert in ihrer äusseren Oberfläche. (Weiter bei …)