Anti-Bigness

Anti-Bigness

Wenn es um Grösse geht, kommt man an dem von Rem Koolhaas geprägten Begriff „Bigness“ nicht vorbei. Allerdings erweisen sich die bisher besprochenen Wohnbauten geradezu als Antithese zu diesem Begriff.

(…vorher) Bigness nach Koolhaas führt zu einer Kultur der Dichte. In einem Gebäude, das eine gewisse Grösse überschreitet, beginnen sich verschiedene Nutzungen zu überlagern. Dabei entsteht Dichte nicht nur durch das Zusammenpferchen einer Grosszahl an Mensch, sondern durch die Vielfalt an unterschiedlichen Tätigkeiten auf engem Raum. Im Buch „Delirious New York“ prägt der Niederländer dazu die Begriffe Automonument, Lobotomie und Schisma. Heike Sinning fasst diese Begriffe in „More is More“ wie folgt zusammen:

„Das Automonument ist ein sehr grosses Gebäude oder, anders gesagt, die „Stadt in der Stadt“. Verkörpert wird das Automonument durch den Wolkenkratzer als Hauptinstrument der Architektur der Dichte, […]. Lobotomie definiert die Unabhängigkeit für die Innen- und Aussenseiten eines Gebäudes. Die Aussengestaltung befasst sich ausschliesslich mit der äusseren Erscheinung des Gebäudes und kümmert sich um das klar gegliederte skulpturale Objekt, während die Innengestaltung auf die ständige Fluktuation von Motiven, Programmen und Ikonographien reagieren können muss. […] Die Bedeutung des Schisma liegt in der völlig unterschiedlichen Aktivität, die in einem einzelnen Gebäude direkt übereinander geschichtet werden können, unabhängig von ihrer symbolischen Verträglichkeit.“ (1)

Und weiter werden da die fünf Prinzipien der Bigness-Theorie aufgeführt:

„1. Bei einer bestimmten kritischen Masse wird ein Gebäude zu einem big-Gebäude. Die Autonomie der einzelnen Teile bedeutet jedoch keine Fragmentierung: die Teile ordnen sich
weiterhin dem Ganzen unter.
2. Die Erfindung des Fahrstuhls vergrössert das Repertoire der Architektur. Fragen der Komposition, der Dimensionierung, der Proportionierung und des Details sind nur noch rein akademischer Natur.
3. Bei Bigness nimmt die Entfernung zwischen Kern und Hülle bis zu dem Punkt zu, wo die Fassade nicht mehr offenbaren kann, was im Inneren geschieht. Der humanistische Anspruch auf „Ehrlichkeit“ ist praktisch tot: Innere und äussere Architekturen entwickeln sich zu separaten Projekten. … Urheber von Desinformation. … Architektur legt offen. Bigness verwirrt. Bigness verwandelt die Stadt, indem sie aus einer Summe von Gewissheiten eine Anhäufung von Rätseln macht. Was man sieht, ist nicht mehr das, was man bekommt.
4. Aufgrund ihrer Grösse gelangen solche Gebäude in eine Sphäre des Amoralischen, jenseits von Gut und Schlecht. Ihre Wirkung hängt nicht von ihrer Qualität ab.
5. Zusammen ergeben all diese Brüche – sie betreffen Grösse, architektonische Komposition, Tradition, Transparenz, Ethik – einen definitiven, an Radikalität nicht mehr zu überbietenden Bruch: Bigness ist nicht mehr teil eines wie auch immer definierten urbanen Zusammenhangs. Sie existiert; bestenfalls koexistiert sie. Ihr Subtext: Scheisst auf den Kontext!“ (2)

Koolhaas entwickelt seine Theorie der Grösse am Beispiel Manhattans, wo sich all diese Phänomene veranschaulichen lassen. Manhattan ist jedoch nur ein Teil New Yorks. Es ist der dichteste Teil davon – eben dort wo die Hochhäuser stehen, von denen er ausgeht. Der Wirkungsradius von Bigness bleibt folgerichtig auf dieses geschäftige Zentrum begrenzt. Anderswo lassen sich auch grosse Gebäude errichten, deren Grösse sich ganz anders auswirkt, als es „Down Town“ der Fall ist…

… Zurück nach Zürich Albisrieden. Durch die Brille von Koolhaas betrachtet haben wir es bei der Wohnsiedlung Triemli nicht mit Bigness zu tun: Die Fassade zeigt, insbesondere durch die Balkone, dass es sich um Wohnnutzungen handelt. Grundriss und Fassade sind nicht getrennt voneinander entwickelt worden. Die Grösse des Gebäudes führt nicht zu einer Überlagerung von Nutzungen. Es lässt sich mutmassen, dass hier die Grenze zur Bigness einfach noch nicht überschritten ist. Allerdings gilt dies nicht für alle Kriterien. Die Grösse und die Haltung zum Kontext können durchaus im Sinne der Bigness gelesen werden. So ist die Länge der beiden Riegel – optisch verstärkt durch die regelmässig strukturierte Fassade – durchaus beeindruckend. Im Verhältnis zum Betrachter, worauf die Wirkung von Grösse letztendlich basiert, erreicht die Siedlung eine kritische Schwelle. Hier stellt sich der sensible Betrachter unmittelbar die Frage nach seiner eigenen Ausdehnung. Gleichermassen Bigness-tauglich scheint die Einpassung in den Kontext. Im Gegensatz zu den umliegenden kleinen Wohnhäusern steht hier ein Kollos. Der Massstabssprung alleine sorgt für den kontextuellen Bruch, aber auch die Beziehung zum Aussenraum und die Gestaltung der Fassade unterstützen diese Wirkung.

Haben wir es also mit einer teilweisen Bigness zu tun? Tritt sie hier in unreiner Form auf? Wohl kaum, denn Bigness ist kein Phänomen, das in Raten funktioniert. Nur im Zusammenspiel aller Kriterien macht es Sinn, diesen Begriff anzuwenden. Gerade dann, wenn selbst die tauglichsten Argumente, wie hier die Grösse und Kontextverweigerung streitbar sind, muss von einer solchen Zuteilung Abstand genommen werden. Die Grösse ist zwar eindrücklich, dennoch kann sie aufgrund der horizontalen Ausdehnung durch das Abschreiten verstanden werden. Das Hochhaus zieht seinen Zauber auch aus der Unmöglichkeit selbiges über die Höhe zu tun (mindestens in der Betrachtung von Aussen). Auch in Sachen Kontext ist die Faktenlage nicht so eindeutig. Einerseits gibt es in der weiteren Umgebung durchaus Grossgebäude, auf die sich Bezug nehmen lässt und andererseits ist die Stadt im Wandel begriffen. Die Verdichtung bringt gezwungenermassen eine neue Bauform mit sich. Die Einbindung der neuen Überbauung in den Kontext liegt in einer lebendigen Stadt gewissermassen in der Entwicklung der Nachbargrundstücke.

Der Kern der Bigness liegt in der Metapher als „Stadt in der Stadt“. Ein Gebäude, das die koolhaasschen Kriterien erfüllt, ist ein komplexes Gebilde. In ihm lassen sich harte Brüche und spannende Überlagerungen feststellen. Bei der Siedlung Triemli findet jedoch gerade das Gegenteil statt. Das einheitliche Bild von aussen wird von einem ebenso einheitlichen Inneren sekundiert. Es ist eine Monokultur des Wohnens, die uns hier begegnet. Es ist eine Antithese zu Down Town oder eine Ergänzung dazu. Die Stadt kann ja schliesslich nicht nur aus der Innenstadt bestehen. Sie muss die Masse an Bewohnern, welche die Gravitationskraft des Zentrums nähren, irgendwo unterbringen. Damit ist die dichte Wohnsiedlung nicht per se unstädtisch. Auch sie ist ein verdichtetes Stück Stadtteil, oder anders formuliert, eine Stadt in der Stadt. Allerdings wirft sie ein ganz anderes Licht auf das, was wir als Stadt verstehen könnten. Diese Stadt ist nicht aufregend. Sie ist ganz schrecklich normal. Dieser Gegensatz zeigt sich anhand eines weiteren Zitates:

„Rem Koolhaas erläutert die Qualität von Bigness wie folgt: „In einem von Unordnung, Fragmentierung, Loslösung und Verzicht geprägten Milieu liegt die Anziehungskraft von Bigness in ihrer Fähigkeit, das Ganze wieder herzustellen, das Reale wiederzubeleben, das Kollektive neu zu erfinden und ein Maximum des Möglichen einzuklagen.“ (3)

Auf die Wohnsiedlung Triemli umgemünzt kann das umgekehrte postuliert werden: Das Ganze muss nicht erst hergestellt werden, denn es war nie fragmentiert. Die Siedlung ist das Gegenstück zur Bigness. Nicht was ihr Volumen angeht, sondern in ihrer funktionalen Zusammensetzung und Ordnungsstruktur. (Weiter bei …)

(1) More is more, OMA/ Rem Koolhaas, Heike Sinning, Ernst Wasmuth Verlag Tübingen, Berlin, Seite 25.
(2) Koolhaas, Rem und Mau, Bruce: S,M,L,XL, Rotterdam: 010 Publishers, New York: Monacelli Press, Dez. 1995 (Neuauflage 1998 bei Taschen Köln und Monacelli Press, New York, S.42) in: More is more, OMA/ Rem Koolhaas, Heike Sinning, Ernst Wasmuth Verlag Tübingen, Berlin, Seite 78-79.)
(3) Confurius, Gerit: New York, Honkong, Kuala Lumpur, Euralille, in Daidalos 61, Sept. 1996, S.125)“ (More is more, OMA/ Rem Koolhaas, Heike Sinning, Ernst Wasmuth Verlag Tübingen, Berlin, Seite 80.)