Funktionales Chaos und formale Unordnung
Die Stadt kann trotz vieler Brüche als Einheit verstanden werden.
Die Brüche müssen verstanden werden können, damit eine Einheit entsteht.
(… vorher) Wie wir gesehen haben führen funktionale Konflikte zu chaotischen Zuständen in der Stadt. Negativ formuliert liesse sich sagen, dass die Stadt an diesen Stellen nicht funktioniert. Positiv gedeutet machen solche Brennpunkte die Stadt gerade reizvoll. Das Aufeinanderprallen der unterschiedlichsten Szenen und Interessensgemeinschaften führt zu einer Lebendigkeit, die es so nur im urbanen Umfeld geben kann. Nicht, dass solche chaotischen Zustände besonders angenehm sein müssen. Für die Direktbetroffenen erweist sich diese Zusammenstösse der „Kulturen“ sicherlich als sehr anstrengend. Dennoch machen sie den Reiz der Stadt zu einem grossen Teil aus. An solchen Stellen wird in gebauter Form offenbar, was die Siedlungsform auf ideeller Ebene ist: sie zeigt sich als gesellschaftlicher Prozess, als gesellschaftliche Auseinandersetzung. Doch davon an anderer Stelle mehr. Hier soll es um ein anderes Phänomen gehen. Eines, das auf den ersten Blick viel mit Chaos zu tun hat, wie wir sehen werden aber völlig unterschiedlich zu bewerten ist: die Formale Unordnung.
Beginnen wir dennoch beim Chaos. Es darf als selbsterklärend gelten, dass sich der Konflikt zwischen einem Fussballstadion und dem umliegenden Wohngebiet auch in der Ausformulierung der beiden Funktionen niederschlägt. Ein Stadion ist nun einmal ein sehr grosses Volumen mit hohen Tribünen. Es benötigt keine Fenster, keine Kinderspielplätze und keine Briefkästen am Eingang. Es ist verständlich, dass die Wohnhäuser anders aussehen als das Stadion. Die Unterschiede machen also Sinn. Das Chaos und der Konflikt kann verstanden werden. Anders sieht dies bei Bauten mit gleicher Funktion aus. Hier sind Unterschiede in der Form wenig verständlich. Wo keine funktionalen Konflikte bestehen, lassen sich auch formale Differenzen nicht per se erklären. Gibt es diese Differenz dennoch, entsteht kein produktives Chaos, sondern lediglich Unordnung.
Wo jedes Gebäude einen eigenen Ausdruck, eine eigene Form, eine eigene Körnung und eine eigene städtebauliche Haltung aufweist, läuft die Stadt Gefahr optisch auseinander zu fallen. Damit wirkt sich die formale Unordnung gänzlich konträr zum funktionalen Chaos aus. Letzteres führt trotz ihrer Unterschiedlichkeit zur Einheit. Denn der Konflikt ist in der Stadt kein Zeichen für das Auseinanderbrechen der Gesellschaft, sondern ein Indikator für die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und schliesslich die Voraussetzung für dessen Lebendigkeit und Fortbestehen. Die formale Unordnung hingegen führt nicht zu Lebendigkeit. Sie führt höchstens zum Unverständnis gegenüber der Stadt.
Dabei sind die Auswirkungen der Unordnung nicht für alle Bebauungsformen gleich dramatisch. Im Grossen wirkt sie sich stärker aus als im Kleinen. Beim Einfamilienhaus ist es die Kleinteiligkeit der Häuschen, welche die Unterschiede nicht so hervorstechen lässt. Hier wiegt die Struktur der kleinen Parzellen schwerer, als das Wirrwarr der Formen. Sie führt zu gleichen Gebäudegrössen und bringt einen gewissen Rhythmus in die Bebauung. Grosse Bauten können von diesem verbindenden Rahmen jedoch kaum profitieren. Meist lassen sie auf Grund ihrer Ausdehnung eine Einordnung in ein System nicht zu. Gerade in der offenen Bebauung, wo die starke Ordnungsform des Blockrandes entfällt, gibt es keine erkennbaren Anhaltspunkte von Ordnung mehr. Hier ist die Heterogenität bestimmend. Hier können die Unterschiede nicht mehr übersehen werden. Hier fällt die Stadt auseinander. Hier herrscht Unordnung. (Weiter bei …)