Lebensraum vs. Kulturort
(.. vorher) Kann die Mall als Ort der Kultur verstanden werden? Was überhaupt ist Kultur?
Das Wort Kultur geht uns leicht über die Lippen. Seine Definition ist aber eine komplexe Angelegenheit. Der Brockhaus erläutert diesen Begriff auf geschlagenen sechs Seiten. Kultur wird in der architektonischen Debatte oft im Zusammenhang mit der Kunst und dem Kunsthandwerk genannt. Es geht da um Dinge, an denen eine Gesellschaft erkennbar wird. An einem Gemälde oder einem Theaterstück lässt sich nicht nur das Denken des Künstlers festmachen, sondern auch die Wahrnehmung des Publikums. Mit Kultur ist also das gemeint, was die Gesellschaft in ihrem Denken und Schaffen definiert. Im Brockhaus heisst es dazu:
„… Kultur [bezeichnet] die Handlungsbereiche, in denen der Mensch […] Sinnzusammenhang gestaltende oder repräsentierende Produkte, Produktionsformen, Verhaltensweisen und Leitvorstellungen hervorzubringen vermag, …“ (1)
Dass hier der Sinnzusammenhang als Grundlage der Kultur definiert wird, bedeutet auch, dass die Gemeinschaft erst durch die Kultur fassbar wird. Sie besorgt also den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft, in dem sie ihr eine Identität verleiht. Der Brockhaus schreibt weiter:
„… Dazu [zu den kulturellen Handlungsbereichen der Gesellschaft] gehören Muster bzw. Modelle sozialen Verhaltens ebenso wie religiöse und kult. Objekte, Schriften u.a. Zeichensysteme, Bauten, Naturgestaltung und Gruppenorganisationen; nicht zuletzt auch Repräsentation geistiger Gebilde wie Rituale, Texte, perfomative Inszenierungen, Gesänge oder sonstige künstlerische Gestaltungen. Damit betont dieser Kulturbegriff nicht nur das Hervorgebrachte und künstliche menschliche Produkte, sondern auch den Formencharakter und die Wertschätzung, die diesen in der Regel zukommt. …“ (1)
Architektur und Städtebau zählen damit, neben vielen anderen Handlungen, zur kulturellen Praxis. Sie zeichnet die Gesellschaft auf ihrem Gebiet aus. Die Art wie beispielsweise Kuwait City gebaut wurde, gibt zu teilen Auskunft über dessen Kultur. Die Charakteristik der Gemeinschaft lässt sich aber nicht alleine durch das gebaute Umfeld ermitteln. Hinzu kommen die politischen Normen, religiösen Gebräuche und vieles mehr. Auch die Mall kann in diesem Sinne nur einen Teilbereich einer Gesellschaft charakterisieren. Entscheidend ist hier die Frage, wie gewichtig dieser Teilbereich für die Gesellschaft ist: In Kuwait, wo die Kluft zwischen konservativen und progressiven Kräften sehr gross ist, dürfte es schwierig sein ein einheitliches, für alle Bewohner gültiges Bild zu zeichnen. Es scheint so, als gäbe es in diesem Land gleich mehrere Kulturen. Eine davon wird durch die Mall verkörpert.
Ein kurzer Rundgang durch Kuwait City soll ein Gefühl davon vermitteln, welchen Stellenwert diese Orte haben: Als Europäer und im speziellen als Architekt, ist man es gewohnt eine Stadt zu Fuss zu erkunden. Man verlässt die Hotellobby und setzt einen Fuss vor den anderen. Die europäischen Städte fordern eine solche Vorgehensweise geradezu heraus. Überall sind kleine Gassen zu entdecken und grosse Strassenzüge zu durchwandern. In Kuwait City begegnet man allerdings einer recht ungepflegten Gehsteig-Infrastruktur. Wenn sie überhaupt Verwendung findet, dann nur von der Unterschicht. Gleiches gilt übrigens für die öffentlichen Verkehrsmittel. Kuwait ist eine Stadt, die aus der Perspektive des klimatisierten Autos heraus erfahren wird. Dies begreift man schnell, wenn man versucht die Strasse vor dem Hotel zu überqueren: Auf vier Spuren donnern die Waagen hier vorbei. Ein Fussgängerstreifen ist nicht in Sicht. Auch die Pflege der Vorplätze zu den Häusern lässt, mit europäischen Augen betrachtet, zu wünschen übrig. Herumwirbelnde Plastiktaschen und allerlei Unrat sorgen nicht gerade für Flanierlaune. Doch dazu ist es sowieso zu heiss. Man sehnt sich nach einem kühlen Innenraum und hofft auf das nächste Einkaufszentrum. Nach ein paar hundert Metern treffen wir auf einen solchen Komplex. Es beginnt die Suche nach dem Eingang. Da ist kein grosszügiger Vorplatz, der den Auftakt zum Eingang bildet. Vielmehr scheint man den Komplex über einen Hintereingang betreten zu müssen. Der Hauptzugang, so nehmen wir an, ist die Tiefgaragenzufahrt. Wir betreten also das Gebäude. Die „Marina Mall“ im Stadtteil Salmiya zeichnet sich durch eine grosse gewölbte Glaskuppel im Zentrum und einen Aussenbereich direkt am Meer aus. Unter den Mietern sind alle wichtigen Internationalen Marken vertreten. Das Angebot an Restaurants ist breit. Der Ausbaustandart ist edel. Die Räume wirken sehr sauber. Der Standard, der hier geboten wird ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Die Innenarchitektur bleibt im Hintergrund. Das Wichtige sind die Läden mit ihren Schaufenstern. Nach dem wir uns ausgiebig in den Kleiderauslagen herumgetrieben haben – durchwegs westliche Mode – treffen wir einen Freund zum Mittagessen. Wir setzen uns in ein Restaurant mit Meerblick. Vor uns liegt ein kleiner Jachthafen. Dahinter breitet sich der persische Golf aus. Die libanesischen Spezialitäten sind ausgezeichnet und die Sonne scheint uns ins Gesicht. So lässt es sich aushalten, geht es einem durch den Kopf.
Mall‘s sind hier Orte des geselligen Beisammenseins. Man kann hier den ganzen Tag verbringen. Der Aussenraum, der vorwiegend ein Strassenraum ist, bildet die Antithese dazu. Er kann nicht wirklich als Lebensraum bezeichnet werden. Ohne Leben aber kann auch kaum ein kultureller Austausch entstehen. Dennoch können Mall und Aussenraum auch als eine Einheit verstanden werden. Die Autos und die Tiefgaragen der Einkaufszentren haben eine natürliche Verbindung zu einander. Sie bedingen einander, indem das Auto das Erreichen von solchen Zentren möglich macht und die Mall ein Leben ohne Aussenraum unterstützt. Es ist gewissermassen eine Lebensart ohne Unterbrüche in der „Kühlkette“ der Klimaanlagen.
Die Mall ist ohne Zweifel ein Modell sozialen Verhaltens. Sie begünstigt eine Art Ritual – das Einkaufen. Die Formensprache, der wir hier begegnen, mag zwar international sein. Dennoch, die Art der Verwendung und mit ihr der Stellenwert in der Gesellschaft sind charakteristisch für dieses Land. Die Mall bildet einen Sinnzusammenhang, eine Leitvorstellung der Kultur von Kuwait. (Weiter bei …)
(1) Brockhaus, Band 16, S.61