Das einsehbare Private
Einsichtigkeit ist ein Merkmal des städtischen Aussenraumes und eine der Voraussetzungen für den öffentlichen Diskurs. Dennoch führt der überblickbare, der einsichtige Raum nicht zwingend zur Öffentlichkeit. Zunächst führt er einfach nur zur Sichtbarkeit der privaten Handlung.
(… vorher) Die Bank im Park, das kleine Strassenkaffee in der Altstadt, der Brunnen neben der Kirche, die Treppenstufen vor der Uni; an all diesen Orten halten sich täglich die unterschiedlichsten Menschen auf. Sie warten dort auf ihre Verabredung, plaudern mit ihren Freunden, trinken ein Bier, lesen ein Buch oder schlagen die Zeit mit ihren elektronischen Spielzeugen tot. Dabei kann ihnen jeder, der sich in der Nähe aufhält, zusehen, vielleicht sogar mithören. Alles liegt offen da, niemand versteckt sich und dennoch sind die Handlungen dieser Menschen allesamt privater Natur. Die Gemeinschaft interessiert sich kaum für den Tratsch von Sandra, für die Liebschaften von Michael oder den Punktestand auf Lisas Game-Applikation. Die Masse an privaten, nahezu identischen Handlungen mag wohl Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Dem gesellschaftlichen Diskurs können sie dennoch nicht angerechnet werden. Sie sind isolierte Vorgänge, denen der entscheidende Zusammenhang fehlt. Im besten Falle sind sie eine gesellschaftliche Begebenheit, über die sich eine öffentliche Debatte lohnt. Für die meisten dieser Handlungen findet sich jedoch kaum eine Handvoll Personen, die sich darüber ernsthaft länger als 5 Minuten unterhalten würden. Sie sind sehr individuell und betreffen einen kleinen Kreis.
Privatheit ist aber nicht auf kleine Gruppen beschränkt. Selbst bei grossen Publikumsaufkommen handelt es sich meist um private Handlungen. Die Kinovorführung ist hierfür ein gutes Beispiel. Ein grosser Vorführsaal kann über hundert Menschen fassen. Die sich wiederholenden Filmvorführungen füllen den Saal einige Male. In jeder Stadt ist der gleiche Film zu sehen. Ein Kassenschlager kann weltweit Millionen von Zuschauern anlocken. Öffentlich ist der Kinobesuch deswegen nicht. Die Cineasten halten sich zwar alle im selben Raum auf, dennoch findet kein Austausch zwischen ihnen statt. Die Menschen sitzen Sessel an Sessel gebannt vor der Leinwand. Eine Debatte während der Vorführung wird als Störung empfunden und mindert das Filmvergnügen. Auch nach dem Film spielt die grosse Anzahl Personen keine Rolle. Die Menschen strömen aus dem Vorführsaal, von wo aus sich die Masse in kleine Grüppchen aufgelöst, zu den umliegenden Kaffees oder heimwärts bewegt. Wenn im Zusammenhang mit dem Film von einem Diskurs gesprochen werden kann, dann handelt es sich überwiegend um Filmwissenschaft oder Kulturkritik. In Rezensionen wird die Qualität von Filminhalten und deren Machart besprochen. Es kann dabei durchaus ein breiter Diskurs entstehen. Falls er jedoch keine gesellschaftsrelevanten Themen zum Inhalt hat, wird es ihm nicht gelingen über sein kulturelles Nischendasein hinaus zu kommen.
Das Kino ist kein Einzelfall. Gleiches gilt auch für Theater, Konzerte und Festivitäten. Was meist als öffentlich beschrieben wird, ist die reine Einsehbarkeit. Von der Sichtbarkeit zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist es jedoch ein langer Weg. Damit schrumpft der Anteil wirklich öffentlicher Handlungen und die Frage steht im Raum, auf welche Funktionen hin der städtische Aussenraum tatsächlich ausgelegt werden kann. Öffentlichkeit ist keine Eigenschaft, die sich so leicht in eine räumliche Gestalt bringen lässt, da sie weniger mit Orten als mit Prozessen zu tun hat. (Weiter bei …)